Das zweite Kapitel

Gleich an der Weggabelung, wo der Wald endete, waren zehn Stangen in die Erde gerammt. Am oberen Ende jeder Stange war ein Wagenrad befestigt. Über den Rädern drängten sich Raben und Krähen, pickten und rissen an den Leichen, die an Felgen und Speichen festgebunden waren. Ob der Höhe der Stangen und der Menge der Vögel ließ sich allerdings nur erahnen, was das für Reste waren, die auf den Rädern ruhten. Doch es waren Leichen. Es konnte nichts anderes sein.

Ciri wandte den Kopf ab und rümpfte angewidert die Nase. Der Wind kam von den Stangen, der Übelkeit erregende Gestank der sich zersetzenden Leichen hing über der Weggabelung.

»Eine bemerkenswerte Dekoration.« Yennefer beugte sich im Sattel seitwärts und spuckte auf den Boden, wobei sie vergaß, dass sie erst vor kurzem Ciri für das Gleiche scharf getadelt hatte. »Malerisch und duftend. Aber warum hier, am Rande des Walddickichts? Für gewöhnlich stellt man derlei direkt vor den Stadtmauern auf. Habe ich recht, ihr guten Leute?«

»Das sind Eichhörnchen, edle Dame«, beeilte sich einer der fliegenden Händler zu versichern, die sie an der Wegscheide eingeholt hatten. Er hielt einen Schecken zurück, der vor einen entladenen zweirädrigen Karren gespannt war. »Elfen. Dort auf den Stangen. Deshalb stehen die Stangen auch im Walde. Den anderen Eichhörnchen zur Warnung.«

»Heißt das« – die Zauberin schaute ihn an  –, »dass man lebendig gefangene Scioa’tael hierherbringt  ...«

»Elfen, meine Dame, lassen sich selten lebendig fangen«, unterbrach sie der Händler. »Und wenn die Krieger wirklich einen erwischen, dann bringen sie ihn in die Stadt, denn da wohnen die sesshaften Nichtmenschen. Wenn die sich auf dem Markt die Hinrichtung ansehen, vergeht ihnen sofort die Lust, sich den Eichhörnchen anzuschließen. Aber wenn Elfen im Kampfe getötet werden, bringt man die Leichen an Wegscheiden und hängt sie an die Stangen. Manchmal bringt man sie von weither, dass sie schon ganz verstunken sind  ...«

»Wenn ich daran denke«, fauchte Yennefer, »dass uns nekromantische Praktiken aus Respekt vor der Majestät des Todes verboten sind, aus Achtung vor den Verschiedenen, den Leichnamen, denen Ehre, Ruhe, eine rituelle und zeremonielle Bestattung gebühren  ...«

»Was sagt Ihr, Herrin?«

»Nichts. Lass uns schleunigst weiterreiten, Ciri, möglichst weit weg von hier. Pfui, mir kommt es so vor, als sei ich schon ganz von diesem Gestank durchtränkt.«

»Mir auch, ojojoj«, sagte Ciri und lenkte das Pferd im Trab um den Wagen des Hausierers herum. »Lass uns Galopp reiten, ja?«

»Gut  ... Ciri! Galopp, aber keinen irrsinnigen!«

 

Bald erblickten sie die Stadt, groß, von Mauern umringt, auf denen sich Türme mit spitzen funkelnden Dächern erhoben. Hinter der Stadt aber war das Meer zu sehen, blaugrün, wie es in den Strahlen der Morgensonne glitzerte, hier und da mit den weißen Flecken von Segeln betupft. Ciri hielt das Pferd am Rande eines sandigen Abhangs an, stellte sich in den Steigbügeln auf, sog gierig den Wind und den Geruch in die Nase.

»Gors Velen«, sagte Yennefer, als sie herangeritten kam und Seite an Seite mit ihr stehenblieb. »Endlich sind wir am Ziel. Reiten wir zurück auf die Straße.«

Auf der Landstraße verfielen sie wieder in leichten Galopp, ließen ein paar Ochsenkarren und mit Holzbündeln beladene Fußgänger zurück.

Als sie alle überholt hatten und allein waren, zügelte die Zauberin das Pferd und hielt Ciri mit einer Geste zurück. »Komm näher heran«, sagte sie. »Noch näher. Nimm die Zügel und führe mein Pferd. Ich brauche beide Hände.«

»Wozu?«

»Nimm die Zügel, bitte.«

Yennefer nahm aus einer Satteltasche einen kleinen silbernen Spiegel, rieb ihn, worauf sie leise einen Spruch sagte. Der Spiegel glitt ihr aus der Hand, schwebte ein Stück fort und blieb über dem Hals des Pferdes hängen, genau vor dem Gesicht der Zauberin.

Ciri seufzte vor Verwunderung, leckte sich die Lippen.

Die Zauberin holte einen Kamm aus der Satteltasche, nahm das Barett ab und kämmte sich eine Weile energisch die Haare. Ciri wahrte Schweigen. Sie wusste, dass man Yennefer beim Kämmen nicht stören und sie nichts fragen durfte. Die malerische und scheinbar lässige Unordnung ihrer üppigen Locken war das Ergebnis langwieriger Bemühungen und erforderte reichlich Anstrengung.

Die Zauberin langte wieder nach einer der Satteltaschen. Sie befestigte Diamantringe an den Ohren und streifte Armreifen über beide Handgelenke. Sie nahm den Schal ab und knöpfte die Bluse ein Stück auf, so dass der Hals und das schwarze Band mit dem Obsidianstern zum Vorschein kamen.

»Ha!« Ciri hielt es schließlich nicht mehr aus. »Ich weiß, warum du das machst! Du willst hübsch aussehen, weil wir in die Stadt reiten! Stimmt’s?«

»Stimmt.«

»Und ich?«

»Was – du?«

»Ich will auch hübsch aussehen! Ich werde mich kämmen  ...«

»Setz die Mütze auf«, sagte Yennefer scharf, den Blick noch immer auf den Spiegel gerichtet, der über den Ohren des Pferdes schwebte. »So, wie sie war. Und verbirg die Haare darunter.«

Ciri fauchte wütend, gehorchte aber augenblicklich. Sie hatte längst gelernt, Färbungen und Schattierungen in der Stimme der Zauberin zu unterscheiden. Sie wusste, wann man es mit einer Diskussion versuchen durfte und wann nicht.

Als Yennefer endlich die Locken auf ihrer Stirn geordnet hatte, holte sie eine Phiole von grünem Glas aus einer Satteltasche. »Ciri«, sagte sie sanfteren Tones. »Wir reisen geheim. Und die Reise ist noch nicht zu Ende. Darum musst du die Haare unter der Mütze verbergen. In jedem Stadttor gibt es Leute, die dafür bezahlt werden, dass sie die Reisenden eingehend und gründlich beobachten. Verstehst du?«

»Nein«, erwiderte Ciri dreist und zog dem Rappen der Zauberin die Zügel an. »Du hast dich so herausgeputzt, dass diesen Aufpassern vom Tor die Augen aus dem Kopf fallen werden! Ein schönes Geheimnis!«

Yennefer lächelte. »Die Stadt, zu deren Toren wir unterwegs sind, ist Gors Velen. Ich brauche mich in Gors Velen nicht zu tarnen, ich würde sagen, eher im Gegenteil. Bei dir ist es etwas anderes. Dich darf niemand in Erinnerung behalten.«

»Diejenigen, die dich angaffen, werden auch mich bemerken!«

Die Zauberin entkorkte die Phiole, aus der es nach Stachelbeeren und Flieder roch. Sie steckte den Zeigefinger in die Phiole und tupfte sich etwas von dem Inhalt unter die Augen.

»Ich glaube kaum«, sagte sie, noch immer geheimnisvoll lächelnd, »dass jemand dich beachten wird.«

 

Vor der Brücke stand eine lange Reihe von Reitern und Wagen, und unmittelbar vor dem Tor drängten sich die Reisenden und warteten, bis sie mit der Kontrolle an der Reihe wären. Ciri entrüstete sich und begann zu murren, verärgert von der Aussicht auf langes Warten. Yennefer jedoch richtete sich im Sattel auf und ritt im Trab los, wobei sie hoch über die Köpfe der Reisenden hinwegblickte – die wiederum traten rasch beiseite, machten Platz, verbeugten sich ehrerbietig. Die Wächter in den langen Kettenhemden hatten die Zauberin ebenfalls erblickt und machten ihr den Weg frei, ohne die Lanzenschäfte zu schonen, mit denen sie starrsinnige oder zu langsame Leute wegdrängten.

»Hierher, hierher, edle Dame!«, rief einer der Wächter, der Yennefer anstarrte und blass wurde. »Kommt hier herein, bitte schön! Beiseitetreten! Beiseite, ihr Flegel!«

Der eilends herbeigerufene Wachführer lehnte sich aus der Wachstube, finster und wütend, doch beim Anblick von Yennefer hellte sich seine Miene auf, er riss Mund und Augen auf, verneigte sich tief. »Ich heiße dich untertänigst in Gors Velen willkommen, erlauchte Herrin«, stammelte er, während er sich wieder aufrichtete und weiterglotzte. »Zu deinen Diensten  ... Steht es in meiner Macht, der edlen Dame dienstbar zu sein? Soll ich eine Eskorte geben? Einen Führer? Vielleicht jemanden herbeirufen?«

»Nicht nötig.« Yennefer reckte sich im Sattel, schaute von oben auf ihn herab. »Ich bleibe nur kurz in der Stadt. Ich reise nach Thanedd.«

»Versteht sich.« Der Soldat trat von einem Fuß auf den anderen, ohne den Blick vom Gesicht der Zauberin zu wenden. Die übrigen Wächter glotzten ebenfalls. Ciri straffte sich stolz und warf den Kopf zurück, stellte jedoch fest, dass niemand sie anschaute. Als wäre sie überhaupt nicht vorhanden.

»Versteht sich«, wiederholte der Wachführer. »Nach Thanedd, ja  ... Zur Zusammenkunft. Ich verstehe, versteht sich. Dann wünsche ich also  ...«

»Danke.« Die Zauberin trieb das Pferd an, offensichtlich nicht neugierig, was ihr der Wachhabende wünschen wollte. Ciri folgte ihr eilig. Die Wächter verbeugten sich vor der vorüberreitendenYennefer, Ciri würdigten sie weiterhin keines Blickes.

»Er hat dich nicht einmal nach dem Namen gefragt!«, murmelte sie, als sie Yennefer eingeholt hatte und das Pferd vorsichtig zwischen den im Straßenmorast ausgefahrenen Wagenspuren lenkte. »Und auch nicht, woher wir kommen! Hast du sie verzaubert?«

»Nicht sie. Mich.«

Die Zauberin wandte sich um, und Ciri stöhnte laut auf. Yennefers Augen verströmten veilchenblauen Glanz, und das Gesicht strahlte vor Schönheit. Blendender. Herausfordernder. Bedrohlicher. Und unnatürlicher.

»Die grüne Phiole!«, erriet Ciri sogleich. »Was war das?«

»Glamarye. Ein Elixier oder genauer eine Salbe für besondere Gelegenheiten. Ciri, musst du durch jede Pfütze auf dem Weg reiten?«

»Ich will dem Pferd die Fesseln waschen!«

»Es hat seit einem Monat nicht geregnet. Das sind Abwässer und Pferdepisse, kein Wasser.«

»Aha  ... Sag mir, warum hast du dieses Elixier verwendet? War dir so viel daran gelegen  ...«

»Das ist Gors Velen«, fiel ihr Yennefer ins Wort. »Eine Stadt, die ihren Wohlstand in erheblichem Maße den Zauberern verdankt. Genauer gesagt, den Zauberinnen. Und ich hatte keine Lust, mich vorzustellen und zu beweisen, wer ich bin. Es war mir lieber, dass das auf den ersten Blick offensichtlich war. Hinter diesem roten Haus biegen wir links ab. Im Schritt, Ciri, zügle das Pferd, sonst reitest du noch irgendein Kind über den Haufen.«

»Und wozu sind wir hierhergekommen?«

»Das habe ich dir schon gesagt.«

Ciri knurrte, presste die Lippen zusammen, stieß dem Pferd heftig eine Ferse in die Flanke. Die Stute tänzelte, wäre beinahe auf ein Gespann geprallt, das an ihnen vorbeifuhr. Der Kutscher stand auf dem Bock auf und holte aus, um ihr eins mit der Fuhrmannspeitsche zu geben, doch beim Anblick von Yennefer setzte er sich rasch wieder und widmete sich einer eingehenden Analyse des Zustandes seiner Treter.

»Noch so eine Eskapade«, presste Yennefer hervor, »und wir zanken uns. Du benimmst dich wie eine minderjährige Ziege. Machst mir Schande.«

»Du willst mich in irgendeine Schule geben, nicht wahr? Ich will nicht!«

»Leiser. Die Leute gaffen.«

»Dich gaffen sie an, nicht mich! Ich will in keine Schule gehen! Du hast mir versprochen, dass du immer bei mir sein wirst, und jetzt willst du mich alleinlassen! Allein! Ich will nicht allein sein!«

»Du wirst nicht allein sein. In der Schule gibt es viele Mädchen in deinem Alter. Du wirst eine Menge Schulfreundinnen haben.«

»Ich will keine Schulfreundinnen. Ich will bei dir sein und bei  ... Ich dachte, dass  ...«

Yennefer wandte sich heftig um. »Was dachtest du?«

»Ich dachte, wir reiten zu Geralt.« Ciri hob herausfordernd den Kopf. »Ich weiß genau, worüber du den ganzen Weg über nachgedacht hast. Und warum du nachts geseufzt hast  ...«

»Genug«, zischte die Zauberin, und der Anblick ihrer flammenden Augen bewirkte, dass Ciri das Gesicht in die Pferdemähne vergrub. »Du bist gar zu frech geworden. Ich erinnere dich daran, dass die Zeit, da du dich mir widersetzen konntest, ein für allemal vorbei ist. Du hast es selbst so gewollt. Jetzt musst du gehorsam sein. Du wirst tun, was ich anordne. Hast du verstanden?«

Ciri nickte.

»Was ich anordne, wird für dich am besten sein. Immer. Und darum wirst du mir gehorchen und meine Empfehlungen ausführen. Ist das klar? Halte das Pferd an. Wir sind da.«

»Das ist diese Schule?«, murrte Ciri und ließ den Blick über die ansehnliche Fassade des Gebäudes schweifen. »Das ist  ...«

»Kein Wort mehr. Steig ab. Und benimm dich, wie es sich gehört. Das ist keine Schule, die Schule befindet sich in Aretusa, nicht in Gors Velen. Das ist eine Bank.«

»Und wozu brauchen wir eine Bank?«

»Denk nach. Absteigen, habe ich gesagt. Nicht in die Pfütze! Lass das Pferd stehen, dafür gibt es Dienerschaft. Zieh die Handschuhe aus. Man betritt eine Bank nicht mit Reithandschuhen. Schau mich an. Rück die Mütze zurecht. Und das Wams. Steh gerade. Du weißt nicht, was du mit den Händen machen sollst? Dann mach nichts mit ihnen!«

Ciri seufzte.

Die Bediensteten, die aus dem Tor des Gebäudes strömten und unter Verbeugungen ihres Amtes walteten, waren Zwerge. Ciri betrachtete sie neugierig. Obwohl sie ebenso kleinwüchsig, stämmig und bärtig waren, ähnelten sie überhaupt nicht ihrem Freund Yarpen Zigrin, ebenso wenig seinen »Jungs«. Die Diener waren Chargen, einheitlich uniformiert, gesichtslos. Und unterwürfig, was man von Yarpen und seinen Jungs partout nicht sagen konnte.

Sie gingen hinein. Das magische Elixier wirkte noch immer, so dass Yennefers Auftritt augenblicklich große Bewegung, Hin-und-her-Laufen, Verbeugungen, weitere unterwürfige Begrüßungen und Bekundungen von Dienstbereitschaft auslöste, die erst aufhörten, als ein unglaublich dicker, würdevoll gekleideter und weißbärtiger Zwerg erschien.

»Verehrte Yennefer!«, dröhnte der Zwerg und klimperte mit der goldenen Kette, die von dem mächtigen Hals bis weit unter den weißen Bart herabhing. »Was für eine Überraschung! Und was für eine Ehre! Bitte, bitte, komm ins Kontor! Und ihr, steht nicht herum, glotzt nicht! An die Arbeit, an die Rechenbretter! Wilfli, sofort eine Flasche Castel de Neuf ins Kontor, Jahrgang  ... Du weißt schon, welcher Jahrgang. Hurtig, Beine in die Hand! Erlaube, erlaube, Yennefer. Es ist eine wahre Freude, dich zu sehen. Du siehst aus  ... Ach, verdammt, mir bleibt die Luft weg!«

Die Zauberin lächelte. »Du hältst dich auch nicht übel, Giancardi.«

»Ja freilich. Bitte, bitte zu mir ins Kontor. Aber nein, nein, die Dame zuerst. Du kennst doch den Weg, Yennefer.«

Das Kontor war abgedunkelt und angenehm kühl, in der Luft hing ein Geruch, dessen sich Ciri vom Turm des Schreibers Jarre her erinnerte – der Geruch von Tinte, Pergament und von dem Staub, der die Eichenmöbel, Gobelins und alten Bücher bedeckte.

»Setzt euch bitte.« Der Bankier rückte für Yennefer einen schweren Sessel vom Tisch ab, ließ einen neugierigen Blick über Ciri schweifen. »Hmm  ...«

»Gib ihr irgendein Buch, Molnar«, sagte die Zauberin, die den Blick bemerkt hatte, beiläufig. »Sie liebt Bücher über alles. Sie wird sich ans Ende des Tisches setzen und nicht stören. Nicht wahr, Ciri?«

Ciri hielt es nicht für angebracht, das zu bestätigen.

»Ein Buch, hm, hm«, sagte der Zwerg bekümmert und trat an eine Kommode. »Was haben wir hier? Ah, das Buch der Ein- und Ausgänge  ... Nein, das ist es nicht. Zölle und Hafengebühren  ... Auch nicht. Kredit und Rembours? Nein. Oh, wie kommt denn das hierher? Weiß der Teufel  ... Aber das wird wohl genau richtig sein. Bitte, Fräuleinchen.«

Das Buch trug den Titel Physiologus, es war sehr alt und sehr abgenutzt. Ciri öffnete es vorsichtig. Das Werk weckte sofort ihr Interesse, denn es handelte von rätselhaften Ungeheuern und Bestien und war voller Stiche. Die nächste Zeit über versuchte sie, ihre Aufmerksamkeit zwischen dem Buch und dem Gespräch der Zauberin mit dem Zwerg zu teilen.

»Hast du irgendwelche Briefe für mich, Molnar?«

»Nein.« Der Bankier schenkte Yennefer und sich Wein ein. »Es sind keine neuen gekommen. Den letzten, vor einem Monat, habe ich auf die festgelegte Weise übermittelt.«

»Ich habe ihn erhalten, danke. Und hat sich vielleicht jemand  ... für diese Briefe interessiert?«

Molnar Giancardi lächelte. »Hier nicht. Aber du zielst in die richtige Richtung, meine Liebe. Die Bank Vivaldi hat mich vertraulich informiert, dass jemand versucht hat, den Weg der Briefe zu verfolgen. Ihre Filiale in Vengerberg hat auch einen Versuch aufgedeckt, die Operation an deinem privaten Ende zu verfolgen. Einer der Mitarbeiter hat sich als treulos erwiesen.«

Der Zwerg verstummte, blickte die Zauberin unter buschigen Brauen hervor an. Yennefer schwieg und spielte mit ihrem Obsidianstern.

»Vivaldi«, fuhr der Bankier mit gesenkter Stimme fort, »konnte oder wollte keine Untersuchung in dieser Angelegenheit durchführen. Der untreue und käufliche Angestellte ist betrunken in den Graben gefallen und ertrunken. Ein Unglücksfall. Schade. Zu schnell, zu übereilt  ...«

»Der Schaden ist gering und die Trauer kurz.« Die Zauberin verzog den Mund. »Ich weiß, wer sich für meine Briefe und mein Konto interessiert hat, eine Untersuchung bei Vivaldi hätte keine Offenbarungen erbracht.«

»Wenn du meinst  ...« Giancardi zauste sich den Bart. »Du reist nach Thanedd, Yennefer? Zu dieser allgemeinen Zusammenkunft der Zauberer?«

»Freilich.«

»Um über das Schicksal der Welt zu entscheiden?«

»Wir wollen nicht übertreiben.«

»Es kursieren allerlei Gerüchte«, sagte der Zwerg trocken. »Und es geschehen allerlei Dinge.«

»Welche, wenn es kein Geheimnis ist?«

»Seit vorigem Jahr«, sagte Giancardi und strich sich über den Bart, »sind seltsame Bewegungen in der Steuerpolitik zu beobachten  ... Ich weiß, dich interessiert das nicht  ...«

»Sprich.«

»Die Kopfsteuer und das Winterquartiergeld sind verdoppelt worden, die von den Armeeführern direkt eingezogenen Steuern. Alle Kaufleute und Unternehmer müssen zusätzlich an den königlichen Schatz einen ›Zehntgroschen‹ zahlen, eine völlig neue Steuer, einen Groschen von jedem Nobel Umsatz. Zwerge, Gnomen, Elfen und Halblinge zahlen darüber hinaus erhöhte Kopf- und Herdsteuern. Wenn sie einer Handelstätigkeit oder einem Produktionsgewerbe nachgehen, unterliegen sie zudem einer ›Nichtmenschenabgabe‹, die zehn von hundert beträgt. Auf diese Weise liefere ich fast sechzig Prozent des Gewinns beim Schatzamt ab. Meine Bank, alle Filialen eingerechnet, gibt den Vier Königreichen sechshundert Mark Silber pro Jahr. Dir zur Kenntnis: Das ist fast das Dreifache von dem, was ein reicher Herzog oder Graf an Zins von einem ausgedehnten Kammergut bezahlt.«

»Menschen werden mit der Abgabe für die Armee nicht belastet?«

»Nein. Sie zahlen nur Winterquartiergeld und Kopfsteuer.«

Yennefer nickte. »Folglich bezahlen die Zwerge und anderen Nichtmenschen den Feldzug gegen die Scioa’tael, der in den Wäldern im Gange ist. Aber was haben die Steuern mit der Zusammenkunft auf Thanedd zu tun?«

»Nach euren Zusammenkünften«, murrte der Bankier, »passiert immer etwas. Diesmal hoffe ich übrigens, dass es umgekehrt sein wird. Ich zähle darauf, dass euer Treffen bewirkt, dass etwas nicht mehr passiert. Ich wäre zum Beispiel sehr froh, wenn diese seltsamen Preisschwankungen aufhören würden.«

»Sprich deutlicher.«

Der Zwerg lehnte sich im Sessel zurück und verschränkte die Finger über dem vom Bart bedeckten Bauch. »Ich arbeite schon ganz schön viele Jahre in meinem Metier«, sagte er. »Lange genug, um gewisse Preisbewegungen mit gewissen Tatsachen in Zusamenhang bringen zu können. Und in letzter Zeit sind die Preise für Edelsteine stark gestiegen. Weil Nachfrage danach besteht.«

»Die Leute wechseln Bargeld in Schmuck, um Verluste durch Schwankungen der Wechselkurse und des Geldwertes zu vermeiden?«

»Das auch. Steine haben darüber hinaus noch einen großen Vorteil. Ein Beutelchen mit Brillanten von ein paar Unzen, das in die Hosentasche passt, entspricht im Wert ungefähr fünfzig Mark Silber, diese Summe aber wiegt in Münzen fünfundzwanzig Pfund und füllt einen stattlichen Sack. Mit dem Beutelchen in der Tasche kann man viel schneller als mit einem Sack auf dem Rücken fliehen. Und man hat beide Hände frei, was nicht zu unterschätzen ist. Mit einer kann man seine Frau festhalten und mit der anderen, wenn nötig, jemandem eins überbraten.«

Ciri prustete los, doch Yennefer brachte sie mit einem drohenden Blick sofort zum Schweigen.

»Es gibt also Leute«, sagte die Zauberin, »die sich schon im Voraus auf die Flucht vorbereiten. Wohin eigentlich?«

»Am höchsten steht der ferne Norden im Kurs. Hengfors, Kovir, Poviss. Erstens, weil das tatsächlich weit weg ist, zweitens sind diese Länder neutral und haben gute Beziehungen zu Nilfgaard.«

»Verstehe.« Das boshafte Lächeln verschwand nicht aus dem Gesicht der Zauberin. »Also die Brillanten in die Tasche gesteckt, die Frau bei der Hand genommen und ab in den Norden  ... Ist das nicht zu früh? Ach, genug davon. Was wird sonst noch teurer, Molnar?«

»Boote.«

»Was?«

»Boote«, wiederholte der Zwerg und bleckte die Zähne. »Alle Werften an der Küste stellen Boote her, die die Quartiermeister der Armee König Foltests bestellt haben. Die Quartiermeister zahlen gut und geben immer neue Bestellungen auf. Wenn du freies Kapital hast, Yennefer, dann investiere in Boote. Eine Goldgrube. Du baust einen Kahn aus Schilf und Baumrinde, stellst eine Rechnung über eine Barkasse aus erstklassigem Kiefernholz aus, den Überschuss teilst du halbe-halbe mit dem Quartiermeister  ...«

»Mach keine Witze, Giancardi. Sag, worauf du hinauswillst.«

»Diese Boote«, sagte der Bankier widerwillig, den Blick zur Decke gerichtet, »werden in den Süden gebracht. Nach Sodden und Brugge, an die Jaruga. Und soviel ich weiß, werden sie nicht zum Fischfang auf dem Fluss benutzt. Sie werden in den Wäldern am rechten Ufer versteckt. Das Heer scheint stundenlang Ein- und Ausschiffen zu üben. Vorerst auf dem Trockenen.«

»Aha.« Yennefer biss sich auf die Lippe. »Aber warum haben es manche so eilig, in den Norden zu kommen? Die Jaruga ist im Süden.«

»Es besteht Grund zu der Befürchtung«, murmelte der Zwerg und schielte zu Ciri hin, »dass Kaiser Emhyr var Emreis nicht überrascht sein wird, wenn er erfährt, dass besagte Boote zu Wasser gelassen wurden. Manche sind der Ansicht, eine solche Bootsausfahrt sei geeignet, Emhyr zu erzürnen, und dann sei man am besten möglichst weit von der Nilfgaarder Grenze entfernt  ... Verdammt, wenn nur bald Ernte wäre. Wenn die Ernte vorbei ist, werde ich erleichtert aufatmen. Wenn etwas passieren sollte, dann vor der Ernte.«

»Danach ist das Korn in den Speichern«, sagte Yennefer langsam.

»Stimmt. Pferde lassen sich schlecht auf Stoppelfeldern weiden, und Festungen mit vollen Speichern belagert man lange  ... Das Wetter ist den Bauern günstig, und die Ernte verspricht recht gut auszufallen  ... Ja, das Wetter ist ausnehmend schön. Die liebe Sonne scheint, die Weihen warten vergeblich auf Regen  ... Und die Jaruga in Dol Angra ist sehr flach  ... Man kann leicht übersetzen. Auf beide Seiten.«

»Warum Dol Angra?«

»Ich hoffe« – der Bankier strich sich über den Bart und sondierte die Zauberin mit einem raschen Blick  –, »ich kann dir vertrauen?«

»Das konntest du immer, Giancardi. Und es hat sich nichts geändert.«

»Dol Angra«, sagte der Zwerg langsam, »bedeutet Lyrien und Aedirn, die ein Militärbündnis mit Temerien haben. Du glaubst doch sicherlich nicht, dass Foltest, der die Boote kauft, sie auf eigene Faust zu benutzen gedenkt?«

»Nein«, sagte die Zauberin langsam. »Das glaube ich nicht. Danke für die Information, Molnar. Wer weiß, vielleicht hast du recht? Vielleicht gelingt es uns auf der Zusammenkunft doch noch, Einfluss zu nehmen auf das Schicksal der Welt und der auf dieser Welt lebenden Menschen?«

»Vergesst die Zwerge nicht.« Giancardi lachte auf. »Und ihre Banken.«

»Wir wollen es versuchen. Wenn wir schon einmal dabei sind  ...«

»Ich bin ganz Ohr.«

»Ich habe Ausgaben, Molnar. Und wenn ich etwas vom Konto bei den Vivaldis abhebe, wird womöglich wieder jemand ertrinken, also  ...«

»Yennefer«, fiel ihr der Zwerg ins Wort, »du hast bei mir unbeschränkten Kredit. Der Pogrom in Vengerberg liegt sehr lange zurück. Vielleicht hast du es vergessen, aber ich werde es niemals vergessen. Keiner aus der Familie Giancardi wird es vergessen. Wie viel brauchst du?«

»Tausendfünfhundert temerische Orons, überwiesen an die Filiale der Cianfanellis in Ellander, zugunsten des Tempels der Melitele.«

»Gemacht. Eine angenehme Überweisung, Spenden für Tempel sind steuerfrei. Was noch?«

»Wie viel Schulgeld bezahlt man jetzt jährlich in Aretusa?«

Ciri spitzte die Ohren.

»Tausendzweihundert Nowigrader Kronen«, sagte Giancardi. »Für eine neue Adeptin kommt die Immatrikulation hinzu, so um die zweihundert.«

»Es ist teurer geworden, verdammt.«

»Alles ist teurer geworden. Für die Adeptinnen ist nichts zu teuer, die leben in Aretusa wie Königinnen. Und von ihnen lebt die halbe Stadt, Schneider, Schuster, Zuckerbäcker, Laufburschen  ...«

»Ich weiß. Zahle zweitausend auf das Konto der Schule ein. Anonym. Mit der Bestimmung, dass es für die Einschreibung und als Vorschuss auf das Schulgeld für  ... für eine bestimmte Adeptin ist.«

Der Zwerg legte die Feder beiseite, schaute Ciri an, lächelte verständnissinnig. Ciri tat, als blättere sie in dem Buch, und hörte aufmerksam zu.

»Ist das alles, Yennefer?«

»Noch dreihundert Nowigrader Kronen für mich, in bar. Für die Zusammenkunft auf Thanedd werde ich mindestens drei Kleider brauchen.«

»Was soll dir Bargeld? Ich gebe dir einen Bankscheck. Über fünfhundert. Die Preise für Importstoffe sind verdammt gestiegen, und du kleidest dich ja nicht in Wolle oder Leinen. Und wenn du etwas für dich oder für die künftige Adeptin in Aretusa brauchst, stehen dir meine Läden und Lager offen.«

»Danke. Welchen Zinssatz vereinbaren wir?«

Der Zwerg hob den Kopf. »Die Zinsen hast du der Familie Giancardi im Voraus bezahlt, Yennefer. Während des Pogroms in Vengerberg. Reden wir nicht mehr davon.«

»Ich mag solche Schulden nicht, Molnar.«

»Ich auch nicht. Aber ich bin Kaufmann, ein Geschäftszwerg. Ich weiß, was eine Verpflichtung ist. Ich kenne ihren Wert. Ich wiederhole, wir wollen nicht mehr davon reden. Worum du gebeten hast, kannst du als erledigt betrachten. Worum du nicht gebeten hast, auch.«

Yennefer hob die Brauen.

»Ein gewisser dir nahestehender Hexer« – Giancardi kicherte – »hat unlängst die Stadt Dorian besucht. Man hat mir berichtet, dass er dort bei einem Wucherer hundert Kronen aufgenommen hat. Der Wucherer arbeitet für mich. Ich werde diese Schuld tilgen, Yennefer.«

Die Zauberin warf Ciri einen Blick zu, verzog heftig den Mund. »Molnar«, sagte sie kalt, »steck deine Finger nicht zwischen Türen, an denen die Angeln kaputt sind. Ich bezweifle, dass er mich immer noch für nahestehend hält, und wenn er von dieser Begleichung der Schulden erfährt, wird er mich endgültig hassen. Du kennst ihn doch, er ist geradezu zwanghaft ehrpusselig. Ist es lange her, dass er in Dorian war?«

»An die zehn Tage. Dann wurde er in Klein Weidenhag gesehen. Von dort, wie mir berichtet wurde, ist er nach Hirundum geritten, weil er einen Auftrag von den Bauern dort hatte. Wie üblich, irgendein Ungeheuer zu erschlagen  ...«

»Und dafür zahlt man ihm wie üblich ein paar Groschen«– Yennefers Stimme änderte sich ein wenig  –, »die wie üblich gerade mal für seine Heilung ausreichen, wenn das Ungeheuer ihm zusetzt. Wie üblich. Wenn du wirklich etwas für mich tun willst, Molnar, dann schalte dich dort ein. Nimm Kontakt zu den Bauern in Hirundum auf und erhöhe die Belohnung. Damit er was zum Leben hat.«

»Wie üblich.« Giancardi lachte auf. »Und wenn er schließlich davon erfährt?«

Yennefer fixierte Ciri, die zuschaute und zuhörte, ohne auch nur Interesse für den Physiologus vorzutäuschen.

»Und von wem«, presste die Zauberin hervor, »sollte er es erfahren?«

Ciri senkte den Blick.

Der Zwerg lächelte vielsagend, strich sich über den Bart. »Bevor du dich nach Thanedd begibst, wirst du in Richtung Hirundum reisen? Rein zufällig natürlich?«

»Nein.« Die Zauberin wandte den Blick ab. »Werde ich nicht. Wechseln wir das Thema, Molnar.«

Giancardi strich sich abermals über den Bart, schaute Ciri an. Ciri senkte den Kopf, räusperte sich und rutschte auf dem Sessel hin und her.

»Richtig«, sagte er. »Es ist Zeit, das Thema zu wechseln. Aber deine Schutzbefohlene langweilt sich sichtlich bei dem Buch  ... und bei unserem Gespräch. Und das, was ich jetzt mit dir besprechen möchte, wird sie noch mehr langweilen, fürchte ich  ... Das Schicksal der Welt, das Schicksal der Zwerge dieser Welt, das Schicksal ihrer Banken, was ist das für ein langweiliges Thema für junge Mädchen, künftige Absolventinnen von Aretusa  ... Lass sie ein wenig unter deinen Fittichen hervor, Yennefer. Soll sie durch die Stadt spazieren  ...«

»Oh ja!«, rief Ciri.

Die Zauberin entrüstete sich und wollte schon den Mund zum Widerspruch öffnen, besann sich jedoch plötzlich eines anderen. Ciri war sich dessen nicht sicher, doch sie hatte den Eindruck, dass bei der Entscheidung ein kaum merkliches Augenzwinkern eine Rolle spielte, welches den Vorschlag des Bankiers begleitet hatte.

»Soll sich das Mädchen die Sehenswürdigkeiten der uralten Stadt Gors Velen anschauen«, fügte Giancardi mit breitem Lächeln hinzu. »Ihr gebührt ein wenig Freiheit vor  ... Aretusa. Und wir beide werden uns noch über gewisse  ... hmm, persönliche Dinge unterhalten. Nein, ich meine nicht, dass das Mädchen allein gehen soll, obwohl das eine sichere Stadt ist. Ich werde ihr einen Gefährten und Beschützer mitgeben. Einen von meinen jüngeren Angestellten  ...«

»Entschuldige, Molnar« – Yennefer erwiderte das Lächeln nicht  –, »aber ich habe nicht den Eindruck, dass heutzutage, selbst in einer sicheren Stadt, die Begleitung eines Zwerges  ...«

»Es ist mir nicht einmal in den Sinn gekommen«, verwahrte sich Giancardi, »dass es ein Zwerg sein sollte. Der Angestellte, von dem ich spreche, ist der Sohn eines geachteten Kaufmanns, ein Mensch von vorn und hinten, sozusagen. Dachtest du, ich beschäftige hier nur Zwerge? He, Wilfli! Ruf mir den Fabio her, hurtig!«

»Ciri  ...« Die Zauberin trat zu ihr hin, beugte sich ein wenig herab. »Aber ohne Dummheiten, damit ich mich nicht schämen muss. Und vor dem Angestellten verplapperst du dich nicht, verstehst du? Versprich mir, dass du darauf achten wirst, was du tust und sagst. Nicke nicht. Versprechen macht man laut.«

»Ich verspreche es, Frau Yennefer.«

»Wirf ab und zu auch einen Blick auf die Sonne. Zu Mittag kommst du zurück. Pünktlich. Und wenn  ... Nein, ich glaube nicht, dass jemand dich erkennt. Aber wenn du bemerkst, dass dich jemand zu eingehend anschaut  ...«

Die Zauberin griff in ihre Tasche, holte einen kleinen, runenbedeckten Chrysopras hervor, der in Form einer Sanduhr geschliffen war. »Steck das in die Tasche. Verlier es nicht. Bei Bedarf  ... Den Spruch weißt du noch? Aber diskret, die Aktivierung erzeugt ein starkes Echo, und das Amulett sendet Wellen aus. Wenn in der Nähe jemand wäre, der für Magie empfänglich ist, würdest du dich offenbaren, statt dich zu tarnen. Ach, und nimm noch das  ... Falls du dir etwas kaufen willst.«

»Danke, Frau Yennefer.« Ciri legte Amulett und Münzen in ihre Tasche und betrachtete neugierig den Burschen, der ins Kontor gelaufen kam. Der junge Mann hatte Sommersprossen, das gewellte kastanienbraune Haar fiel ihm auf den hohen Kragen der grauen Uniform, wie sie die kaufmännischen Angestellten der Bank trugen.

»Fabio Sachs«, stellte Giancardi vor. Der junge Mann verbeugte sich höflich.

»Fabio, das ist Frau Yennefer, unser geehrter Gast und unsere geschätzte Klientin. Und dieses Fräulein, ihre Schutzbefohlene, hat den Wunsch, die Stadt zu besuchen. Du wirst sie begleiten, ihr als Führer und Beschützer dienen.«

Der junge Mann verneigte sich erneut, diesmal deutlich zu Ciri hin.

»Ciri«, sagte Yennefer kalt, »steh bitte auf.«

Sie stand auf, ein wenig verwundert, denn sie kannte die Sitten gut genug, um zu wissen, dass das nicht verlangt wurde. Doch augenblicks verstand sie. Der Angestellte sah tatsächlich gleichaltrig mit ihr aus, doch er war einen Kopf kleiner.

»Molnar«, sagte die Zauberin. »Wer soll hier wen beschützen? Konntest du für diese Aufgabe nicht jemanden mit gewichtigeren Abmessungen einteilen?«

Der junge Mann wurde rot und schaute den Prinzipal fragend an. Giancardi nickte zustimmend. Der Angestellte verbeugte sich abermals.

»Gnädige Dame«, sagte er fließend und ohne jede Verlegenheit. »Ich mag nicht besonders groß sein, doch man kann sich auf mich verlassen. Ich kenne die Stadt gut, die Vorstädte und die ganze Gegend. Ich werde dieses Fräulein beschützen, so gut ich nur kann. Und wenn ich, Fabio Sachs junior, der Sohn des Fabio Sachs, etwas tue, so gut ich nur kann, dann  ... Dann kann sich so mancher Größere nicht mit mir messen.«

Yennefer betrachtete ihn einen Moment lang, dann wandte sie sich dem Bankier zu. »Gratuliere, Molnar«, sagte sie. »Du verstehst es, Mitarbeiter auszuwählen. Du wirst in Zukunft Freude an deinem jüngsten Angestellten haben. In der Tat, Erz von hoher Güte klingt, wenn man dagegenschlägt. Ciri, ich vertraue dich zuversichtlich der Obhut von Fabio, dem Sohn Fabios an, denn das ist ein ernsthafter und vertrauenswürdiger Mann.«

Der Bursche wurde rot bis in die Haarwurzeln. Ciri spürte, wie sie ebenfalls errötete.

»Fabio.« Der Zwerg öffnete eine Schatulle, wühlte in dem klirrenden Inhalt. »Hier hast du einen halben Nobel und drei  ... und zwei Fünfer. Für den Fall, dass das Fräulein irgendeinen Wunsch hat. Wenn sie keinen hat, bringst du das Geld wieder. Na, ihr könnt gehen.«

»Zu Mittag, Ciri«, erinnerte Yennefer. »Keinen Augenblick später.«

»Ich weiß, ich weiß.«

»Ich heiße Fabio«, sagte der Bursche, als sie die Treppe hinabgingen und auf die belebte Straße traten. »Und dich nennt man Ciri, ja?«

»Ja.«

»Was willst du in Gors Velen besuchen, Ciri? Die Hauptstraße? Die Goldschmiedegasse? Den Seehafen? Oder vielleicht den Jahrmarkt?«

»Alles.«

»Hm«, sagte der junge Mann bekümmert. »Wir haben nur bis Mittag Zeit  ... Am besten wird es sein, wenn wir auf den Markt gehen. Heute ist Markttag, man kann dort eine Menge interessante Dinge sehen! Aber vorher gehen wir auf die Mauer, von wo aus man die ganze Bucht und die berühmte Insel Thanedd sieht. Was hältst du davon?«

»Gehen wir.«

Die Straße entlang fuhren knarrende Wagen, trotteten Pferde und Ochsen, Böttcher rollten Fässer, überall herrschten Lärm und Eile. Ciri war von dem Verkehr und dem Gebrüll ein wenig benommen – sie trat ungeschickt neben den hölzernen Bürgersteig und geriet bis zum Knöchel in Morast und Unrat. Fabio wollte sie unterfassen, doch sie riss sich los. »Ich kann selber gehen!«

»Hmm  ... Na ja. Hier, wo wir sind, ist die Hauptstraße der Stadt. Sie heißt Kardo und verbindet beide Tore, das Haupttor und das Seetor. Dort drüben geht es zum Rathaus. Siehst du den Turm mit dem goldenen Wetterhahn? Genau das ist das Rathaus. Und dort, wo das bunte Schild hängt, ist der Gasthof ›Zum aufgeschnürten Korsett‹. Aber dort, hmm  ... dort gehen wir nicht hin. Wir gehen, ah, dorthin, nehmen die Abkürzung über den Fischmarkt, der in der Ringstraße ist.«

Sie bogen in eine Gasse ab und kamen auf einem kleinen Platz heraus, der zwischen Häuserwänden eingezwängt war. Der Platz war voller Stände, Fässer und Bottiche, aus denen starker Fischgeruch drang. Es war ein lebhafter und geräuschvoller Handel im Gange, Verkäufer und Käufer bemühten sich, die in der Höhe kreisenden Möwen zu überschreien. An der Mauer saßen Katzen, die so taten, als interessierten sie die Fische überhaupt nicht.

»Deine Herrin«, sagte Fabio plötzlich, während er zwischen den Ständen lavierte, »ist sehr streng.«

»Ich weiß.«

»Sie ist nicht eng mit dir verwandt, nicht wahr? Das sieht man gleich!«

»Ja? Woran denn?«

»Sie ist sehr schön«, sagte Fabio mit der grausamen, entwaffnenden Offenheit eines jungen Mannes.

Ciri drehte sich wie eine Sprungfeder um, doch ehe sie dazu kam, Fabio mit einer Bosheit bezüglich seiner Sommersprossen und seines kleinen Wuchses zu antworten, hatte der Bursche sie schon zwischen die Wagen, Fässer und Stände gezogen, wobei er erklärte, dass die Befestigungsanlage, die sich über dem Platz erhob, Diebesbastei genannt wurde, dass die zu ihrem Bau verwendeten Steine vom Meeresgrund stammten und dass die darunter wachsenden Bäume Platanen hießen.

»Du bist schrecklich wortkarg, Ciri«, stellte er plötzlich fest.

»Ich?« Sie täuschte Verwunderung vor. »Nichts dergleichen! Ich höre einfach aufmerksam zu, was du sagst. Du erzählst sehr interessant, weißt du? Gerade wollte ich dich fragen  ...«

»Ich höre, frag.«

»Ist es weit von hier zu  ... zu der Stadt Aretusa?«

»Überhaupt nicht! Denn Aretusa ist gar keine Stadt. Gehen wir auf die Mauer, ich zeig’s dir. Dort ist die Treppe.«

Die Mauer war hoch und die Treppe steil. Fabio kam ins Schwitzen und außer Atem, kein Wunder, denn er redete die ganze Zeit. Ciri erfuhr, dass die Mauer, die Gors Velen umgab, erst vor kurzem errichtet worden war, viel später als die Stadt selbst, die noch die Elfen erbaut hatten, dass sie fünfunddreißig Fuß hoch und eine sogenannte Kasemattenmauer war, aus behauenem Stein und ungebrannten Ziegeln, denn dieses Material hielt Rammbockstößen besser stand.

Oben empfing und umwehte sie eine erfrischende Brise vom Meer her. Nach der dicken, unbeweglichen Luft in der Stadt atmete Ciri den Wind mit Freuden ein. Sie stützte die Ellenbogen auf die Mauerbrüstung, schaute auf den Hafen hinab, der bunt war von Segeln.

»Was ist das, Fabio? Dieser Berg?«

»Die Insel Thanedd.«

Die Insel schien sehr nahe zu sein. Und sie ähnelte in keiner Weise einer Insel. Sie sah wie eine in den Meeresboden gerammte riesige Steinsäule aus, eine große Zikkurat, umringt von einer sich spiralförmig windenden Straße, von im Zickzack laufenden Treppen und von Terrassen. Auf den Terrassen grünten Haine und Gärten, aus dem Grün aber, wie Schwalbennester an die Felsen geklebt, ragten schlanke weiße Türme und geschmückte Kuppeln, die sich über von Galerien umgebenen Gebäuden erhoben. Diese Gebäude wirkten überhaupt nicht gebaut. Sie schienen aus den Hängen jenes dem Meer entwachsenen Berges gemeißelt zu sein.

»Das alles haben die Elfen gebaut«, erklärte Fabio. »Es heißt, mit Hilfe von Elfenmagie. Doch seit unvordenklichen Zeiten gehört Thanedd den Zauberern. Nicht weit von der Spitze, dort, wo diese glänzenden Kuppeln sind, befindet sich der Palast Garstang. Dort beginnt in ein paar Tagen die große Zusammenkunft der Magier. Und dort, schau, ganz oben, dieser hohe einsame Turm mit den Zinnen, das ist der Tor Lara, der Möwenturm.«

»Kommt man zu Lande dorthin? Es ist ja ganz nahe.«

»Ja. Es gibt eine Brücke, die das Ufer der Bucht mit der Insel verbindet. Wir sehen sie nicht, weil die Bäume sie verdecken. Siehst du die roten Dächer am Fuße des Berges? Das ist der Palast Loxia. Dorthin führt die Brücke. Nur durch Loxia gelangt man auf die Straße, die zu den oberen Terrassen führt  ...«

»Und dort, wo diese hübschen Galerien und kleinen Brücken sind? Und Gärten? Wie sich das an der Felswand hält, dass es nicht herunterfällt  ... Was ist das für ein Palast?«

»Das ist eben Aretusa, wonach du gefragt hast. Dort befindet sich die berühmte Schule für junge Zauberinnen.«

»Ach  ...« Ciri leckte sich die Lippen. »Dort ist das also  ... Fabio?«

»Ja?«

»Siehst du manchmal die jungen Zauberinnen, die in dieser Schule lernen? In diesem Aretusa?«

Der Bursche schaute sie an, sichtlich verwundert. »Niemals! Niemand bekommt sie zu sehen! Sie dürfen die Insel nicht verlassen, nicht in die Stadt kommen. Und auf das Gebiet der Schule hat niemand Zutritt. Sogar der Burggraf und der Gerichtsdiener können, wenn sie etwas mit den Zauberinnen zu klären haben, nur bis nach Loxia gehen. Auf die unterste Ebene.«

»Das dachte ich mir.« Ciri nickte, den Blick auf die glänzenden Dächer von Aretusa gerichtet. »Das ist keine Schule, sondern ein Gefängnis. Auf einer Insel, an einem Felsen, überm Abgrund. Ein Gefängnis, und basta.«

»Ein wenig schon«, gab Fabio nach kurzem Überlegen zu. »Dort kommt man wirklich schwer heraus  ... Aber nein, es ist nicht wie in einem Gefängnis. Die Adeptinnen sind doch junge Mädchen. Man muss sie behüten  ...«

»Wovor?«

»Na  ...«, stotterte der Bursche. »Du weißt doch  ...«

»Ich weiß nicht.«

»Hmm  ... Ich denke  ... Ach, Ciri, es schließt sie ja niemand mit Gewalt in der Schule ein. Sie wollen selber  ...«

»Klar doch.« Ciri lächelte schelmisch. »Wenn sie wollen, dann sitzen sie in diesem Gefängnis. Wenn sie nicht wollen würden, hätten sie sich nicht dort einschließen lassen. Das ist überhaupt keine Kunst, man muss nur rechtzeitig das Weite suchen. Noch ehe man sich dort befindet, denn danach kann es schwierig werden  ...«

»Wie das? Fliehen? Und wohin sollten sie  ...«

»Sie«, unterbrach sie ihn, »wussten sicherlich nicht wohin, die Ärmsten. Fabio? Wo liegt die Stadt  ... Hirundum?«

Der Bursche betrachtete sie überrascht. »Hirundum ist keine Stadt«, sagte er. »Das ist ein großes Gut. Es gibt dort Gärten, die Gemüse und Obst für alle Städte in der Umgebung liefern. Es gibt da auch Teiche, in denen Karpfen und andere Fische gehalten werden  ...«

»Wie weit ist es von hier nach diesem Hirundum? In welche Richtung? Zeig es mir.«

»Und wozu willst du das wissen?«

»Zeig es mir, bitte.«

»Siehst du diese Straße, die nach Westen führt? Dort, wo die Wagen sind? Die fahren gerade nach Hirundum. Es sind so an die fünfzehn Meilen, die ganze Zeit durch Wald.«

»Fünfzehn Meilen«, wiederholte Ciri. »Nicht weit, wenn man ein gutes Pferd hat  ... Dank dir, Fabio.«

»Wofür dankst du mir?«

»Unwichtig. Jetzt führ mich zum Markt. Du hast es versprochen.«

»Gehen wir.«

Ein solches Gedränge und solchen Tumult wie auf dem Markt von Gors Velen hatte Ciri noch nirgends erlebt. Der laute Fischmarkt, über den sie unlängst gegangen waren, wirkte dagegen wie ein stiller Tempel. Der Platz war wahrlich gigantisch, und trotzdem hatte sie den Eindruck, dass sie höchstens von weitem einen Blick darauf werfen könnten, denn einen Fuß auf den Marktplatz zu setzen, schien nicht einmal im Traum möglich zu sein. Fabio stürzte sich jedoch kühn in die zusammengeballte Menge und zog Ciri an der Hand mit. Ciri wurde sogleich schwindlig.

Die Verkäufer schrien sich die Seele aus dem Leib, die Käufer noch lauter, im Gedränge verlorene Kinder heulten und jammerten. Rindvieh brüllte, Schafe blökten, Geflügel schnatterte und krähte. Zwergenhandwerker hieben verbissen mit Hämmern auf Bleche, und wenn sie damit aufhörten, um sich zu betrinken, begannen sie unflätig zu fluchen. Von mehreren Stellen des Platzes ertönten Pfeifen, Lauten und Zimbeln, anscheinend spielten da Vaganten und Musiker auf. Zu allem Überfluss blies jemand, der inmitten des Getümmels unsichtbar blieb, unablässig in eine Messingposaune. Das war unverkennbar kein Musiker.

Ciri sprang vor einem direkt auf sie zurennenden, durchdringend quiekenden Schwein beiseite und stieß gegen Käfige mit Hühnern. Sie wurde angerempelt und trat auf etwas Weiches, das miaute. Sie sprang zurück und wäre beinahe einem großen, stinkenden, hässlichen und bedrohlichen Vieh unter die Hufe geraten, das mit seinen struppigen Flanken die Leute auseinanderdrängte.

»Was war das?«, ächzte sie, während sie um ihr Gleichgewicht rang. »Fabio?«

»Ein Kamel. Hab keine Angst.«

»Ich habe keine Angst! Das fehlte noch!«

Sie blickte sich neugierig um. Sie schaute den Halblingen bei der Arbeit zu, die unter den Augen des Publikums schmucke Weinschläuche aus Ziegenleder herstellten, begeisterte sich für die schönen Puppen, die ein Halbelfenpaar an einem Stand feilbot. Sie betrachtete die Erzeugnisse aus Malachit und Jaspis, die ein mürrischer und brummiger Gnom zum Verkauf anbot. Mit Interesse und Kennerblick musterte sie die Schwerter am Stande eines Waffenschmieds. Sie sah Mädchen zu, die Weidenkörbe flochten, und kam zu dem Schluss, dass es nichts Schlimmeres als Arbeit gebe.

Das Blasen auf der Posaune hörte auf. Vermutlich hatte man den Bläser erschlagen.

»Was riecht denn hier so lecker?«

»Krapfen.« Fabio klopfte auf den Geldbeutel. »Hast du den Wunsch, einen zu essen?«

»Ich habe den Wunsch, zwei zu essen.«

Der Verkäufer reichte ihnen drei Krapfen, nahm den Fünfer und gab ein paar Kupfermünzen heraus, von denen er eine in der Mitte durchbrach. Ciri, die allmählich ihre Fassung zurückgewann, schaute ihm zu, während sie gierig den ersten Krapfen verschlang.

»Wozu tut er das?«, fragte sie, während sie sich über den zweiten hermachte.

»Weil« – Fabio schluckte seinen Krapfen hinunter – »es keine kleineren Münzen als den Groschen gibt. Werden dort, wo du herkommst, keine halben Groschen verwendet?«

»Nein.« Ciri leckte sich die Finger ab. »Dort, wo ich herkomme, wurden goldene Dukaten verwendet. Außerdem war das ganze Durchbrechen sinnlos und unnötig.«

»Warum?«

»Weil ich den Wunsch habe, noch einen dritten Krapfen zu essen.«

Die mit Pflaumenmus gefüllten Krapfen begannen wie ein überaus wundersames Elixier zu wirken. Ciris Stimmung hellte sich auf, und das Gewimmel auf dem Platz stieß sie nicht mehr ab, sondern begann ihr sogar zu gefallen. Sie ließ sich nicht länger von Fabio mitziehen, sondern zog ihn ihrerseits ins dichteste Gedränge, zu einer Stelle, wo jemand auf einer aus Fässern improvisierten Tribüne eine Rede hielt. Der Redner war ein Dickwanst im vorgerückten Alter. An dem kahlgeschorenen Kopf und der braunen Kutte erkannte Ciri ihn als wandernden Priester. Sie hatte solche schon gesehen, gelegentlich besuchten welche den Tempel der Melitele in Ellander. Mutter Nenneke nannte sie niemals anders als »diese fanatischen Dummköpfe«.

»Es gibt nur ein Recht auf der Welt!«, brüllte der dicke Priester. »Das göttliche Recht! Die ganze Natur unterliegt diesem Recht, die ganze Erde und alles, was auf dieser Erde lebt! Zauberei aber und Magie sind diesem Recht zuwider! Darum sind die Zauberer verflucht, und bald kommt der Tag des Zorns, an dem das himmlische Feuer ihre unflätige Insel vernichten wird! Dann werden die Mauern von Loxia, Aretusa und Garstang einstürzen, hinter denen sich diese Gottlosen gerade versammeln, um ihre Ränke zu schmieden! Einstürzen werden diese Mauern  ...«

»Und wir werden sie, verdammich, neu bauen müssen«, murmelte ein neben Ciri stehender Handwerksgeselle in einem kalkbeschmierten Kittel.

»Ich beschwöre euch, ihr guten und gottesfürchtigen Leute«, schrie der Priester, »glaubt nicht den Zauberern, wendet euch weder um Rat an sie noch mit einer Bitte! Lasst euch weder von ihrer schönen Gestalt irreführen noch von ihrer glatten Rede, denn wahrlich sage ich euch, dass diese Zauberer sind wie geweißte Gräber, von außen schön, innen jedoch voller Fäulnis und morscher Knochen!«

»Schaut ihn euch an«, sagte eine junge Frau mit einem Korb voll Mohrrüben, »was er für große Reden schwingt. Kläfft die Magier an, weil er neidisch auf sie ist, weiter nichts.«

»Klar«, stimmte ihr der Maurer zu. »Ihm selber, schaut doch, ist der Kopf kahl wie’n Ei geworden, und der Wanst hängt ihm bis zu den Knien runter. Aber die Zauberer sind stattlich, sie werden weder dick noch kahl  ... Und die Zauberinnen, ha, die Schönheit selber  ...«

»Weil sie für diese Schönheit ihre Seele dem Teufel verkauft haben!«, schrie ein untersetzter Typ mit einem Schusterhammer hinterm Gürtel.

»Bist ’n Trottel, Stiefelknecht. Wenn nicht die guten Fräuleins von Aretusa wären, hättest du längst dein Ränzlein schnüren müssen! Ihnen verdankst du, dass du was zu beißen hast!«

Fabio zog Ciri am Ärmel, sie tauchten abermals in die Menge ein, die sie auf die Mitte des Platzes zutrug. Sie hörten eine Trommel dröhnen und laute Rufe, die Stille forderten. Die Menge dachte gar nicht daran, still zu sein, doch den Ausrufer auf dem hölzernen Podest störte das keineswegs. Er hatte eine laute, klangvolle Stimme und verstand sich ihrer zu bedienen.

»Es wird kundgetan«, schrie er, während er ein Pergament entrollte, »dass Hugo Ansbach, Halbling von Geburt, in die Acht getan ist, denn er hat den verbrecherischen Elfen, so sich Eichhörnchen nennen, in seinem Hause Unterschlupf und Nahrung gewährt. Ebenso geächtet ist Justin Ingvar, der Schmied, von Geburt Zwerg, der für jene Verworfenen Pfeilspitzen geschmiedet hat. Daher hat der Burggraf angeordnet, dass nach beiden gefahndet werden soll. Wer sie fängt, der erhält fünfzig Kronen Belohnung. Wer ihnen aber Nahrung oder Unterkunft bietet, wird als ihr Spießgeselle behandelt werden und die gleiche Strafe erleiden. Wenn sie jedoch in einem Weiler oder einem Dorfe ergriffen werden, soll der ganze Weiler oder das ganze Dorf zur Rechenschaft gezogen werden  ...«

»Wer würde denn«, rief jemand aus der Menge, »einem Halbling Unterschlupf geben! Auf denen ihren Farmen sollen sie suchen, und wenn sie ihn finden, dann ab in den Knast mit allen diesen Nichtmenschen!«

»An den Galgen, nicht in den Knast!«

Der Ausrufer begann, weitere Bekanntmachungen des Burggrafen und des Rates der Stadt zu verlesen, doch Ciri verlor das Interesse. Sie hatte gerade vor, sich aus der Menge zu lösen, als sie plötzlich auf dem Hinterteil eine Hand fühlte. Eine absolut nicht zufällige Hand, dreist und geschickt.

Das Gedränge, hätte man meinen sollen, machte es unmöglich, sich umzudrehen, doch Ciri hatte in Kaer Morhen gelernt, wie man sich an Stellen bewegt, wo man sich kaum bewegen kann. Sie drehte sich um, was einige Verwirrung auslöste. Der direkt hinter ihr stehende junge Priester mit dem kahlgeschorenen Kopf lächelte arrogant und geübt. Na und, sagte dieses Lächeln, was machst du jetzt? Du wirst hübsch erröten, und damit gut, nicht wahr?

Der Priester hatte offensichtlich noch nie mit einer Schülerin Yennefers zu tun gehabt.

»Pfoten weg, du kahlköpfiger Blödmann!«, explodierte Ciri, vor Wut blass geworden. »Fass dir an den eigenen Hintern, du  ... du geweißtes Grab!!!«

Sie hatte vor, sich die Tatsache zunutze zu machen, dass sich der in der Menge eingezwängte Priester nicht rühren konnte, und ihm einen Fußtritt zu versetzen, doch das verhinderte Fabio, der sie rasch von dem Priester und dem Ort des Geschehens wegzog. Als er sah, dass sie vor Zorn geradezu zitterte, beruhigte er sie, indem er ein paar mit Puderzucker bestreute Kartoffelpuffer spendierte, bei deren Anblick Ciri den Zwischenfall augenblicklich vergaß. Sie blieben an dem Stand stehen, an einer Stelle, von wo aus sie das Schafott mit dem Pranger sehen konnten. Am Pranger stand jedoch kein Übeltäter, und das Schafott selbst war mit Blumengirlanden geschmückt und diente einer Gruppe von wie Papageien herausgeputzten Musikanten, die auf Lauten drauflosklampften und auf Dudelsäcken und Pfeifen spielten. Ein junges schwarzhaariges Mädchen in einem flitterbesetzten ärmellosen Jäckchen sang und tanzte, wobei sie ein kleines Tambourin schüttelte und fröhlich mit den Stiefelchen stampfte.

 

Ging ’ne Zaubrin durch den Wald, bissen sie die Schlangen;
klar, sie lebt – die Schlangen sind alle draufgegangen!

 

Die ums Schafott versammelte Menge lachte sich scheckig und klatschte den Rhythmus. Der Kartoffelpuffer-Verkäufer warf die nächste Portion ins siedende Öl. Fabio leckte sich die Finger ab und zog Ciri am Ärmel.

Die Stände nahmen kein Ende, und überall wurde etwas Schmackhaftes angeboten. Sie aßen jeder noch ein Cremetörtchen, dann zu zweit einen kleinen geräucherten Aal und als Nachspeise etwas sehr Seltsames, Geröstetes, das auf ein Stäbchen gespießt war. Später blieben sie bei Fässern mit Sauerkraut stehen und taten so, als ob sie probierten, um eine größere Menge zu kaufen. Als sie dann gingen, ohne etwas gekauft zu haben, nannte die Verkäuferin sie Hosenscheißer.

Sie gingen weiter. Für den Rest des Geldes erwarb Fabio ein Körbchen mit Bergamotte-Birnen. Ciri schaute zum Himmel, entschied jedoch, es sei noch nicht Mittag.

»Fabio? Was sind das für Zelte und Buden, dort an der Mauer?«

»Verschiedene Belustigungen. Willst du es sehen?«

»Ja.«

Vor dem ersten Zelt standen ausschließlich Männer, die vor Erregung von einem Fuß auf den anderen traten. Aus dem Inneren drangen Flötenklänge.

»Die schwarzhäutige Leila  ...«, las Ciri mit Mühe die krakelige Aufschrift auf einer Plane, »verrät beim Tanz alle Geheimnisse ihres Körpers  ...« Irgendein Unsinn! Was denn für Geheimnisse  ...

»Gehen wir weiter, gehen wir weiter«, drängte Fabio, ein wenig rot geworden. »Oh, schau, das ist interessant. Hier empfängt eine Wahrsagerin, die die Zukunft vorhersagt. Ich habe noch genau zwei Groschen, das genügt  ...«

»Schade um das Geld«, fauchte Ciri. »Das ist mir vielleicht eine Weissagung, für zwei Groschen! Um weiszusagen, muss man eine Seherin sein. Das ist ein großes Talent. Sogar unter den Zauberinnen hat höchstens eine von hundert solche Fähigkeiten  ...«

»Meiner ältesten Schwester«, warf der junge Mann ein, »hat eine Wahrsagerin prophezeit, dass sie heiraten würde, und es ist eingetroffen. Zieh keinen Flunsch, Ciri. Komm, wir wollen uns wahrsagen lassen  ...«

»Ich will nicht heiraten. Ich will keine Weissagungen. Es ist heiß, und in diesem Zelt stinkt es nach Weihrauch, ich gehe da nicht hinein. Wenn du willst, geh allein, ich warte hier. Ich weiß nur nicht, was soll dir eine Weissagung? Was möchtest du wissen?«

»Na  ...«, begann Fabio zu stottern. »Am meisten, das  ... Ob ich reisen werde. Ich möchte gern auf Reisen gehen. Die ganze Welt sehen  ...«

Wird er, dachte Ciri plötzlich und spürte, wie es sich ihr im Kopf drehte. Er wird auf großen weißen Segelschiffen fahren  ... Weltgegenden erreichen, die niemals jemand vor ihm gesehen hat  ... Fabio Sachs, der Entdecker  ... Seinen Namen erhält ein Vorgebirge, der Rand eines Kontinents, der heute noch keinen Namen hat. Im Alter von vierundfünfzig Jahren, verheiratet, Vater von einem Sohn und drei Töchtern, wird er fern von Zuhause und seinen Nächsten sterben, an einer Krankheit, die heute noch keinen Namen hat  ...

»Ciri! Was hast du?«

Sie wischte sich mit der Hand übers Gesicht. Sie hatte den Eindruck, als tauche sie aus Wasser empor, vom Grunde eines tiefen, eiskalten Sees an die Oberfläche.

»Es ist nichts  ...«, murmelte sie, während sie um sich blickte und wieder zu sich kam. »Mir ist schwindlig geworden  ... Das liegt an dieser Hitze. Und an dem Weihrauch aus dem Zelt  ...«

»Eher wohl an dem Sauerkraut«, sagte Fabio ernsthaft. »Wir hätten nicht so viel essen sollen. Mir geht es auch im Bauche um.«

»Ich habe nichts!« Ciri hob keck den Kopf und fühlte sich tatsächlich besser. Die Gedanken, die ihr durch den Kopf gewirbelt waren, verwehten, sanken in Vergessenheit. »Komm, Fabio. Lass uns weitergehen.«

»Willst du eine Birne?«

»Na klar.«

Bei der Mauer spielte eine Gruppe Halbwüchsiger um Geld Kreiseln. Den exakt mit der Schnur umwickelten Kreisel musste man mit einem geschickten Ruck, der an einen Peitschenhieb erinnerte, so in Drehbewegung versetzen, dass er auf den mit Kreide gezeichneten Feldern Kreise beschrieb. Ciri hatte beim Kreiseln die meisten Jungen von den Skellige-Inseln besiegt, auch sämtliche Adeptinnen im Tempel der Melitele übertroffen. Sie erwog schon, sich in das Spiel einzuschalten und den Taugenichtsen nicht nur die Kupfermünzen, sondern auch die geflickten Hosen abzunehmen, als ihre Aufmerksamkeit plötzlich von lauten Rufen gefesselt wurde.

Ganz am Ende der Reihe von Zelten und Buden, an die Wand und die Steintreppe gezwängt, stand eine sonderbare halbrunde Absperrung aus Planen, die an klafterlangen Stangen aufgespannt waren. Zwischen zwei Pfosten befand sich ein Eingang, den ein hochgewachsener, pockennarbiger Mann in Steppjacke, gestreiften Hosen und Matrosenstiefeln versperrte. Vor ihm drängte sich eine Gruppe Leute. Nachdem sie dem Pockennarbigen ein paar Münzen in die Hand gedrückt hatten, verschwanden die Leute der Reihe nach hinter der Plane. Der Pockennarbige steckte das Geld in einen ansehnlichen Beutel, schüttelte ihn, dass es klingelte, und rief mit heiserer Stimme: »Zu mir, gute Leute! Zu mir! Ihr werdet mit eigenen Augen das schrecklichste Wesen sehen, das die Götter erschaffen haben! Furcht und Entsetzen! Ein lebendiger Basilisk, der giftige Schrecken der serrikanischen Wüsten, ein leibhaftiger Teufel, ein unersättlicher Menschenfresser! So ein Untier habt ihr noch nicht gesehen, ihr Leute! Eben erst gefangen und mit dem Schiff übers Meer gebracht! Schaut ihn euch an, schaut euch mit eigenen Augen einen lebendigen, fürchterlichen Basilisken an, denn so etwas werdet ihr niemals und nirgends mehr zu sehen bekommen! Letzte Gelegenheit! Hier bei mir für nur drei Fünfer! Weiber mit Kind je zwei Fünfer!«

»Ha«, sagte Ciri, während sie Wespen von der Birne verscheuchte. »Ein Basilisk? Und lebendig? Den muss ich unbedingt sehen. Bis jetzt habe ich nur Stiche gesehen. Komm, Fabio.«

»Ich habe kein Geld mehr  ...«

»Ich habe welches. Ich werde für dich bezahlen. Komm nur.«

»Es müssen sechs sein.« Der Pockennarbige schaute auf die Kupfermünzen, die sie ihm gegeben hatte. »Drei Fünfer pro Person. Billiger nur für Weiber mit Kind.«

»Er« – Ciri zeigte mit der Birne auf Fabio – »ist ein Kind. Und ich bin ein Weib.«

»Billiger nur für Weiber mit Kind auf dem Arm«, knurrte der Pockennarbige. »Also leg noch zwei Fünfer zu, schlaues Fräulein, oder verschwinde und lass die anderen vorbei. Beeilt euch, Leute! Es sind nur noch drei Plätze frei!«

Hinter der Absperrung aus Planen drängten sich Städter im Kreis um ein aus Brettern gezimmertes Podest, auf dem ein hölzerner, mit einem Teppich bedeckter Käfig stand. Nachdem er die letzten Zuschauer eingelassen hatte, sprang der Pockennarbige auf das Podest, nahm eine lange Stange und zog damit den Teppich weg. Aasgestank und ein unangenehmer Reptiliengeruch drangen heran. Die Zuschauer begannen zu flüstern und wichen ein wenig zurück.

»Daran tut ihr recht, gute Leute«, erklärte der Pockennarbige. »Nicht zu nahe, denn das ist gefährlich!«

In dem Käfig, der ihr sichtlich zu eng war, lag eine zusammengerollte Echse, von dunklen Schuppen mit seltsamer Zeichnung bedeckt. Als der Pockennarbige mit der Stange gegen den Käfig schlug, regte sich das Reptil, schurrte mit den Schuppen über die Gitterstäbe, reckte den langen Hals und begann durchdringend zu zischen, wobei es spitze weiße, kegelförmige Zähne sehen ließ, die sich stark gegen die fast schwarzen Schuppen rund ums Maul abhoben. Die Zuschauer stöhnten laut. Ein struppiges Hündchen auf den Armen einer Frau, anscheinend einer Verkäuferin, begann durchdringend zu jaulen.

»Passt gut auf, ihr guten Leute«, rief der Pockennarbige. »Und seid froh, dass in unserer Weltgegend keine solchen Untiere leben! Das ist ein grauenhafter Basilisk aus dem fernen Serrikanien! Geht nicht näher heran, geht nicht näher, denn obwohl er im Käfig eingesperrt ist, kann er euch schon mit seinem Atem vergiften!«

Ciri und Fabio hatten sich endlich durch den Ring von Zuschauern nach vorn gearbeitet.

»Der Basilisk«, fuhr der Pockennarbige auf dem Podest fort, wobei er sich auf die Stange stützte wie ein Wachsoldat auf die Hellebarde, »ist die giftigste Bestie der Welt! Denn der Basilisk ist der König aller Schlangen! Wenn es mehr Basilisken gäbe, wäre diese Welt rettungslos verloren! Zum Glück ist das ein sehr seltenes Ungeheuer, denn es schlüpft aus einem Ei, welches ein Hahn gelegt hat. Und ihr wisst ja selber, ihr Leute, dass nicht jeder Hahn Eier legt, sondern nur ein Mistkerl, der wie eine Henne seinen Sterz einem anderen Hahn hinhält.«

Die Zuschauer reagierten mit einmütigem Gelächter auf diesen vorder- oder vielleicht eher hintergründigen Scherz. Nur Ciri lachte nicht, sie beobachtete die ganze Zeit aufmerksam das Geschöpf, das sich, von dem Lärm gereizt, wand, gegen die Gitterstäbe stieß und in sie biss, wobei es in der Enge vergeblich versuchte, die verletzten Flughäute zu entfalten.

»Das Ei, das solch ein Hahn gelegt hat, muss von hundertundeiner Giftschlange ausgebrütet werden! Und wenn aus dem Ei der Basilisk schlüpft  ...«

»Das ist kein Basilisk«, stellte Ciri fest und biss in die Bergamotte.

Der Pockennarbige warf ihr einen scheelen Blick zu. »...  wenn der Basilisk schlüpft, sage ich«, fuhr er fort, »dann frisst er alle Schlangen im Nest und verschluckt ihr Gift, doch es tut ihm gar keinen Schaden. Er selber aber füllt sich so mit Gift, dass er nicht nur mit dem Zahn töten kann, nicht einmal mit einer Berührung, sondern allein schon mit dem Atem! Und wenn ein Ritter zu Pferde es wagt und den Basilisken mit der Lanze durchbohrt, dann schießt das Gift den Schaft entlang und tötet augenblicklich zugleich Pferd und Ritter!«

»Das ist eine unwahre Unwahrheit«, sagte Ciri laut und spuckte einen Kern aus.

»Die allerwahrste Wahrheit!«, widersprach der Pockennarbige. »Er tötet sie, das Pferd und den Reiter!«

»Von wegen!«

»Still, Fräuleinchen!«, rief die Verkäuferin mit dem Hündchen. »Stör nicht! Wir wollen gucken und hören!«

»Ciri, hör auf«, flüsterte Fabio und stieß sie in die Seite. Ciri fauchte ihn an und langte in das Körbchen nach der nächsten Birne.

»Vor dem Basilisken« – der Pockennarbige hob die Stimme, um den im Publikum aufkommenden Lärm zu übertönen  –, »sucht jedes Tier das Weite, sobald es nur sein Zischen hört. Jedes Tier, sogar ein Drache, was sage ich, sogar ein Krokodil, und ein Krokodil ist unglaublich schrecklich, wer eins gesehen hat, weiß das. Nur ein Tier fürchtet den Basilisken nicht, und das ist der Marder. Der Marder, wenn er das Ungeheuer in der Wüste sieht, rennt so schnell er kann in den Wald, dort sucht er ein Kraut, das er allein kennt, und frisst es. Dann schadet das Gift des Basilisken dem Marder nicht mehr, und er kann den Basilisken totbeißen.«

Ciri brach in Gelächter aus und imitierte mit den Lippen ein anhaltendes, überaus unanständiges Geräusch.

»He, Schlaubergerin!« Der Pockennarbige verlor die Geduld. »Wenn dir etwas nicht passt, dann geh raus! Niemand zwingt dich, zuzuhören und den Basilisken anzuschauen!«

»Das ist überhaupt kein Basilisk.«

»Ach so? Und was ist es dann, Fräulein Schlaubergerin?«

»Eine Wiewerne«, stellte Ciri fest, warf den Birnengriebs fort und leckte sich die Finger ab. »Eine gewöhnliche Wiewerne. Jung, nicht besonders groß, ausgehungert und schmutzig. Aber eine Wiewerne, weiter nichts. In der Älteren Rede: Wyvern.«

»Oh, schaut nur!«, brüllte der Pockennarbige. »Was für eine Kluge und Gelehrte wir da erwischt haben! Halt die Klappe, sonst  ...«

»Oha«, ließ sich ein blonder junger Mann mit einem Samtbarett und dem wappenlosen Wams eines Knappen vernehmen, der ein zierliches, blässliches Mädchen in einem aprikosenfarbenen Kleid untergefasst hielt. »Gemach, Herr Tierfänger! Droht keiner edlen Dame, sonst bekommt Ihr womöglich mein Schwert zu schmecken. Zumal mir hier etwas nach Betrug zu riechen scheint!«

»Was für Betrug, junger Herr Ritter?« Der Pockennarbige schluckte. »Sie lügt, die Rotz  ... Ich wollte sagen, das edelgeborene Fräulein irrt sich! Das ist ein Basilisk!«

»Es ist eine Wiewerne«, wiederholte Ciri.

»Was denn für eine Werne! Ein Basilisk! Seht doch, wie fürchterlich er ist, wie er zischt, wie er am Käfig beißt! Was er für Zähne hat! Zähne, sag ich euch, hat der wie  ...«

»Wie eine Wiewerne.« Ciri zog eine Grimasse.

»Wenn du die Weisheit mit Löffeln gefressen hast« – der Pockennarbige durchbohrte sie mit einem Blick, dessen sich ein echter Basilisk nicht geschämt hätte  –, »dann geh doch näher hin! Tritt ran, dass er dich anhaucht! Und gleich werden alle sehen, wie du die Hufe hochreißt, wenn du vom Gift blau anläufst! Na, geh doch!«

»Bitte sehr.« Ciri riss sich von Fabio los und trat einen Schritt vor.

»Das erlaube ich nicht!«, rief der blonde Knappe, verließ seine aprikosenfarbene Begleiterin und vertrat Ciri den Weg. »Das kann nicht sein! Du setzt dich zu großer Gefahr aus, liebe Dame!«

Ciri, die noch nie jemand so angesprochen hatte, errötete leicht, schaute den jungen Mann an und klimperte mit den Wimpern auf die Art, die sie an dem Schreiber Jarre vielfach erprobt hatte. »Es besteht keinerlei Risiko, edler Ritter.« Sie lächelte verführerisch, entgegen den Warnungen Yennefers, die sie oft genug an das Sprichwort erinnert hatte, dass man am vielen Lachen den Narren erkennt. »Mir wird nichts geschehen. Dieser angeblich giftige Atem ist ein Schwindel.«

»Ich würde trotzdem lieber« – der junge Mann legte die Hand auf den Schwertknauf – »an deiner Seite sein. Zu Schutz und Verteidigung  ... Erlaubst du es?«

»Ich erlaube es.« Ciri wusste nicht, warum ihr der wütende Gesichtsausdruck des aprikosenfarbenen Fräuleins so angenehm war.

»Ich bin es, der sie beschützt und verteidigt!« Fabio warf den Kopf zurück und blickte den Knappen herausfordernd an. »Und ich gehe auch mit ihr!«

»Meine Herren.« Ciri plusterte sich auf und reckte die Nase hoch. »Etwas mehr Würde. Drängelt euch nicht. Es reicht für alle.«

Der Ring von Zuschauern begann zu wogen und zu murmeln, als sie sich mutig dem Käfig näherte, wobei sie den Atem der beiden Burschen beinahe im Nacken spürte. Die Wiewerne zischte wütend und warf sich hin und her, Reptiliengeruch schlug Ciri in die Nase. Fabio schnaufte vernehmlich, doch Ciri wich nicht zurück. Sie ging noch näher heran und streckte die Hand aus, dass sie fast den Käfig berührte. Das Ungeheuer warf sich gegen die Gitterstäbe, biss auf sie ein. Wieder wogte die Menge, jemand schrie auf.

»Na, und?« Ciri wandte sich um, stemmte stolz die Hände in die Hüften. »Bin ich gestorben? Hat mich dieses angeblich giftige Geschöpf vergiftet? Wenn das ein Basilisk ist, dann bin ich  ...«

Sie verstummte, als sie bemerkte, wie der Knappe und Fabio plötzlich erbleichten. Sie drehte sich blitzschnell um und sah, wie sich unter dem Ansturm der wütenden Echse zwei Gitterstäbe lösten und rostige Nägel aus dem Rahmen rissen.

»Flieht!«, schrie sie aus voller Kehle. »Der Käfig birst!«

Die Zuschauer stürzten schreiend zum Ausgang. Ein paar versuchten, durch die Plane zu brechen, verstrickten aber nur sich selbst und andere darin, warfen alles durcheinander, bildeten ein wimmelndes Knäuel. Der Knappe packte Ciri genau in dem Moment, da sie zurückspringen wollte, am Arm, worauf beide strauchelten und fielen und auch Fabio umrissen. Das struppige Hündchen der Verkäuferin begann zu kläffen, der Pockennarbige gottserbärmlich zu fluchen und das völlig desorientierte aprikosenfarbene Fräulein durchdringend zu kreischen.

Die Gitterstäbe brachen krachend heraus, die Wiewerne drängte sich aus dem Käfig. Der Pockennarbige sprang vom Podest und versuchte, sie mit der Stange aufzuhalten, doch das Ungeheuer schlug sie ihm mit einem einzigen Pfotenhieb aus der Hand, krümmte sich und versetzte ihm einen Hieb mit dem stachelbewehrten Schwanz, dass seine blatternarbige Wange zu einem blutigen Brei wurde. Zischend und die verletzten Flügel ausbreitend, flog die Wiewerne vom Podest herab und stürzte sich auf Ciri, Fabio und den Knappen, die aufzustehen versuchten. Das aprikosenfarbene Fräulein wurde ohnmächtig und fiel der Länge nach auf den Rücken. Ciri spannte sich zum Sprung an, begriff aber, dass sie es nicht schaffen würde.

Es rettete sie das struppige Hündchen, dass sich aus den Armen der Verkäuferin losgerissen hatte, welche hingefallen war und sich in ihren sechs Unterröcken verheddert hatte. Mit hohem Kläffen stürzte sich das Hundevieh auf das Ungeheuer. Die Wiewerne zischte, erhob sich, nagelte das Hündchen mit ihren Krallen fest, wand sich mit einer schlangenhaften, unwahrscheinlich schnellen Bewegung und schlug ihm die Zähne in den Hals. Das Hündchen begann wild zu jaulen.

Der Knappe kam auf die Knie und griff an seine Hüfte, doch Ciri war schneller. Mit einer blitzschnellen Bewegung zog sie das Schwert aus der Scheide, sprang mit einer Halbdrehung auf. Die Wiewerne wich zurück, der abgerissene Kopf des Hündchens hing ihr aus dem vor Zähnen starrenden Maul.

Alle in Kaer Morhen gelernten Bewegungen, kam es Ciri vor, führten sich von selbst aus, fast ohne ihr Zutun. Sie hieb der überraschten Wiewerne in den Wanst und wirbelte sogleich in einer Volte herum, und die Echse, die sich auf sie stürzte, fiel in den Sand und verströmte Blut. Ciri sprang über sie hinweg, wobei sie geschickt dem peitschenden Schwanz auswich, versetzte dem Ungeheuer einen sicheren, zielgerichteten und kräftigen Schlag in den Hals, sprang zurück, vollführte automatisch eine schon nicht mehr nötige Volte und brachte sofort noch einen Hieb an, der das Rückgrat durchtrennte. Die Wiewerne krümmte sich zusammen und erstarrte, nur der schlangengleiche Schwanz peitschte noch hin und her, dass der Sand stiebte.

Rasch drückte Ciri dem Knappen das blutige Schwert in die Hand. »Es ist schon vorbei!«, rief sie der fliehenden Menge und den sich noch immer aus den Planen hervorschälenden Zuschauern zu. »Das Untier ist tot! Dieser tapfere Ritter hat es erschlagen  ...«

Plötzlich fühlte sie einen Druck im Hals und ein Wirbeln im Magen, es wurde ihr schwarz vor Augen. Etwas schlug ihr mit schrecklicher Kraft gegen den Hinterkopf, dass ihr die Zähne laut aufeinanderstießen. Das, was sie geschlagen hatte, war der Erdboden.

»Ciri«, flüsterte der neben ihr kniende Fabio. »Was ist mit dir? Götter, du bist leichenblass  ...«

»Schade«, murmelte sie, »dass du dich selber nicht sehen kannst.«

Ringsum drängten sich Leute. Ein paar hieben mit Stöcken und Schürhaken auf den Körper der Wiewerne ein, ein paar versorgten den Pockennarbigen, der Rest ließ den heldenhaften Knappen hochleben, den furchtlosen Drachentöter, den Einzigen, der ruhig Blut bewahrt und ein Massaker verhindert hatte. Der Knappe versuchte das aprikosenfarbene Fräulein zu Bewusstsein zu bringen, während er immerzu wie benommen auf die Klinge seines Schwertes stierte, die mit Streifen erstarrenden Blutes beschmiert war.

»Mein Held  ...« Das aprikosenfarbene Mädchen kam endlich zu sich und warf dem Knappen die Arme um den Hals. »Mein Retter! Mein Geliebter!«

»Fabio«, sagte Ciri mit schwacher Stimme, als sie sah, wie sich Stadtwächter durch das Gewühl einen Weg bahnten. »Hilf mir aufstehen und bring mich hier weg. Schnell.«

»Ihr armen Kinder  ...« Eine dicke Bürgerin mit einer Haube blickte ihnen nach, als sie sich durch die Ansammlung schoben. »Oi, ihr habt vielleicht was durchgemacht. Oi, wenn nicht der tüchtige kleine Ritter gewesen wäre, hätten sich eure Mütter die Augen ausgeweint!«

»Findet heraus, bei wem dieser junge Mann als Knappe dient!«, rief ein Handwerker mit Lederschürze. »Für diese Tat hat er sich die Sporen verdient!«

»Und den Tierfänger an den Pranger! Den Stock muss er kriegen, den Stock! So ein Ungeheuer in die Stadt zu bringen, mitten unter die Leute  ...«

»Wasser, hurtig! Das Fräulein ist wieder ohnmächtig geworden!«

»Mein armer Fiffi!«, heulte plötzlich die Verkäuferin auf, über das gebeugt, was von dem struppigen Hündchen übrig war. »Mein armes Hundchen! Leute! Fangt dieses Mädchen, diese Schelmin, die den Drachen wütend gemacht hat! Wo ist sie? Fasst sie! Nicht der Tierfänger, sie ist an allem schuld!«

Die Stadtwächter, von zahlreichen Freiwilligen verstärkt, begannen, durch die Menge zu gehen und sich umzusehen.

Ciri zwang sich, nicht zurückzuschauen. »Fabio«, flüsterte sie. »Wir wollen uns trennen. Wir treffen uns gleich in dieser Straße wieder, durch die wir gekommen sind. Geh. Und wenn dich jemand anhält und nach mir fragt, dann kennst du mich nicht.«

»Aber  ... Ciri  ...«

»Geh!«

Sie nahm Yennefers Amulett fest in die Hand und murmelte den Aktivierungsspruch. Der Zauber wirkte augenblicklich, und es war auch höchste Zeit. Die Wächter, die sich schon in ihre Richtung durchdrängelten, blieben desorientiert stehen.

»Was’n jetzt los?«, wunderte sich einer von ihnen, während er Ciri geradewegs anzuschauen schien. »Wo ist sie? Grad eben hab ich sie gesehn  ...«

»Dort, dort!«, schrie ein anderer und zeigte in die entgegengesetzte Richtung.

Ciri wandte sich ab und ging fort, noch immer ein wenig benommen und geschwächt von dem Adrenalinstoß und von der Aktivierung des Amuletts. Das Amulett wirkte so, wie es wirken sollte – absolut niemand bemerkte und beachtete sie. Absolut niemand. Daher wurde sie, ehe sie aus der Menge heraus war, zahllose Male angerempelt, getreten und gestoßen. Wie durch ein Wunder entging sie einer Kiste, die von einem Wagen geworfen wurde. Um ein Haar hätte man ihr mit einer Gabel ein Auge ausgestochen. Wie sich zeigte, hatten Zaubersprüche ihre guten und schlechten Seiten – und brachten ebenso viele Vor- wie Nachteile.

Die Wirkung des Amuletts hielt nicht lange vor. Ciri hatte nicht genug Kraft, um es zu beherrschen und die Wirkungsdauer des Spruchs zu verlängern. Zum Glück hörte der Zauber im richtigen Augenblick auf zu wirken – als sie aus der Menge heraus war und Fabio erblickte, der in der Straße auf sie wartete.

»Oje«, sagte der Bursche. »Oje, Ciri. Da bist du. Ich habe mir Sorgen gemacht  ...«

»Ganz unnötig. Gehen wir, schnell. Der Mittag ist schon vorüber, ich muss zurückkehren.«

»Mit diesem Ungeheuer bist du nicht übel fertig geworden.« Der Bursche schaute sie staunend an. »Du hast dich vielleicht schnell gedreht! Wo hast du das gelernt?«

»Was? Die Wiewerne hat der Knappe getötet.«

»Das stimmt nicht. Ich habe gesehen  ...«

»Nichts hast du gesehen! Ich bitte dich, Fabio, zu niemandem ein Wort. Zu niemandem. Besonders nicht zu Frau Yennefer. Oje, die würde mir zusetzen, wenn sie erführe  ...«

Sie verstummte.

»Die dort« – sie zeigte hinter sich zum Markt hin – »hatten recht. Ich war es, die die Wiewerne gereizt hat  ... Es war meinetwegen  ...«

»Nicht deinetwegen«, widersprach Fabio voll Überzeugung. »Der Käfig war aufs Geratewohl zusammengezimmert. Er hätte jeden Augenblick aufbrechen können, in einer Stunde, morgen, übermorgen  ... Es ist besser, dass es jetzt passiert ist, denn du hast uns gerettet  ...«

»Der Knappe war das!«, schrie Ciri. »Der Knappe! Schreib dir das endlich hinter die Ohren! Ich sag dir, wenn du mich verrätst, verwandle ich dich in  ... in etwas Grässliches! Ich kenne Zaubersprüche! Ich verzaubere dich  ...«

»Na, na«, ertönte es hinter ihrem Rücken. »Das reicht jetzt aber!«

Eine der Frauen, die hinter ihnen gingen, hatte dunkle, glatt frisierte Haare, funkelnde Augen und schmale Lippen. Sie trug einen über die Schultern geworfenen kurzen Mantel aus violettem Seidenstoff, der mit Feh abgesetzt war.

»Warum bist du nicht in der Schule, Adeptin?«, fragte sie mit kalter, klingender Stimme, während sie Ciri mit durchdringendem Blick maß.

»Warte, Tissaia«, sagte die andere Frau, die jünger war, blond und hochgewachsen und ein grünes, stark dekolletiertes Kleid trug. »Ich kenne sie nicht. Sie ist anscheinend keine  ...«

»Ist sie«, fiel ihr die Dunkelhaarige ins Wort. »Ich bin mir sicher, dass das eins von deinen Mädchen ist, die während des Durcheinanders beim Wechsel der Wohnungen aus Loxia ausgebüxt sind. Und gleich wird sie uns das selbst gestehen. Also, Adeptin, ich warte.«

»Was?« Ciri runzelte die Stirn.

Die Frau presste die schmalen Lippen zusammen, rückte die Manschetten ihrer Ärmel zurecht. »Wem hast du das Tarnamulett gestohlen? Oder hat es dir vielleicht jemand gegeben?«

»Was?«

»Stell meine Geduld nicht auf die Probe, Adeptin. Deinen Namen, die Klasse, den Namen der Klassenlehrerin. Rasch!«

»Was?«

»Stellst du dich dumm, Adeptin? Den Namen! Wie heißt du?«

Ciri biss die Zähne zusammen, und in ihren Augen flammte grüne Glut auf. »Anna Ingeborg Klopstock«, presste sie dreist hervor.

Die Frau hob eine Hand, und sogleich erkannte Ciri das ganze Ausmaß ihres Irrtums. Yennefer hatte ihr nur einmal – und das, nachdem Ciri lange an ihren Nerven gesägt hatte – demonstriert, wie der Lähmzauber wirkt. Der Eindruck war ausnehmend widerwärtig gewesen. Jetzt war er es auch.

Fabio schrie tonlos auf und stürzte auf sie zu, doch die zweite Frau, die Blonde, packte ihn am Kragen und hielt ihn fest. Der Bursche versuchte sich loszureißen, doch der Arm der Frau war wie von Eisen. Ciri konnte nicht einmal zucken. Es kam ihr vor, als versinke sie allmählich im Erdboden. Die Dunkelhaarige beugte sich vor und fixierte sie aus funkelnden Augen.

»Ich bin keine Anhängerin von Körperstrafen«, sagte sie mit eisiger Stimme und rückte dabei abermals ihre Manschetten zurecht, »aber ich werde dafür sorgen, dass du durchgeprügelt wirst, Adeptin. Nicht für den Ungehorsam, nicht für den Diebstahl des Amuletts und nicht für das Schuleschwänzen. Nicht dafür, dass du eine unerlaubte Kleidung trägst, mit einem Burschen umherläufst und dich mit ihm über Dinge unterhältst, über die zu sprechen dir verboten ist. Du wirst dafür verprügelt werden, dass du die Erzmeisterin nicht erkannt hast.«

»Nein!«, rief Fabio. »Tu ihr nichts zuleide, gnädige Frau! Ich bin Angestellter der Bank von Herrn Molnar Giancardi, und dieses Fräulein ist  ...«

»Halt den Mund!«, schrie Ciri. »Halt  ...«

Der Knebelzauber wurde schnell und brutal gewirkt. Sie fühlte Blut im Mund.

»Na?«, drängte die Blonde Fabio, ließ seinen zerknitterten Kragen los und glättete ihn mit einer fürsorglichen Bewegung. »Sprich. Wer ist dieses trotzige Fräulein?«

 

Margarita Laux-Antille tauchte prustend aus dem Bassin auf, dass das Wasser spritzte. Ciri konnte sich nicht verkneifen, sie anzuschauen. Sie hatte Yennefer des öfteren nackt gesehen und nicht geglaubt, dass jemand eine schönere Figur haben könne. Sie hatte sich getäuscht. Beim Anblick der nackten Margarita Laux-Antille wären sogar die Marmorstatuen von Göttinnen und Nymphen vor Neid erblasst.

Die Zauberin langte nach dem Bottich mit kaltem Wasser und goss es sich über die Brüste, wobei sie unanständig fluchte und sich schüttelte.

»He, Mädchen.« Sie winkte Ciri. »Sei so gut und reich mir das Handtuch. Und hör endlich auf, mich anzustarren.«

Ciri fauchte leise, noch immer gekränkt. Als Fabio verraten hatte, wer sie war, hatten die Zauberinnen sie mit Gewalt durch die halbe Stadt geschleppt und sie der Lächerlichkeit preisgegeben. In der Bank Giancardi klärte sich natürlich alles sofort auf. Die Zauberinnen entschuldigten sich bei Yennefer und erklärten ihr Verhalten. Es waren nämlich die Adeptinnen aus Aretusa vorübergehend in Loxia untergebracht worden, denn die Räume der Schule hatte man in Wohnungen für die Teilnehmer und Gäste der Zusammenkunft der Zauberer umgewandelt. Ein paar Adeptinnen hatten sich das Durcheinander beim Umzug zunutze gemacht, waren von Thanedd entwichen und trieben sich in der Stadt herum. Margarita Laux-Antille und Tissaia de Vries, alarmiert von Ciris aktiviertem Amulett, hatten sie für eine der Ausreißerinnen gehalten.

Die Zauberinnen entschuldigten sich bei Yennefer, doch keiner fiel es ein, Ciri um Entschuldigung zu bitten. Während sich Yennefer die Entschuldigungen anhörte, schaute sie Ciri an, und die fühlte, wie sie rote Ohren bekam. Am übelsten aber erging es Fabio  – Molnar Giancardi schimpfte ihn derart aus, dass der Bursche Tränen in den Augen hatte. Er tat Ciri leid, doch sie war auch stolz auf ihn: Fabio hielt Wort und sagte keinen Ton über die Wiewerne.

Wie sich zeigte, war Yennefer mit Tissaia und Margarita bestens bekannt. Die Zauberinnen luden sie in den »Silbernen Kranich« ein, die beste und teuerste Herberge in Gors Velen, wo Tissaia de Vries nach der Ankunft abgestiegen war, da sie aus nur ihr bekannten Gründen zögerte, sich auf die Insel zu begeben. Margarita Laux-Antille, die sich als die Rektrix von Aretusa erwies, hatte die Einladung der älteren Zauberin angenommen und teilte momentan mit ihr die Unterkunft. Die Herberge war wahrlich luxuriös – sie hatte im Kellergeschoss ein Bad, das Margarita und Tissaia zu ihrer eigenen ausschließlichen Nutzung gemietet hatten, wofür sie unvorstellbare Summen zahlten. Yennefer und Ciri wurden natürlich eingeladen, Gebrauch von dem Bad zu machen, so dass schon seit ein paar Stunden alle abwechselnd im Bassin schwammen und im Dampf schwitzten, wobei sie unablässig schwatzten.

Ciri reichte der Zauberin das Handtuch. Margarita kniff sie sacht in die Wange. Ciri fauchte erneut und sprang mit lautem Platschen ins Bassin, in das nach Rosmarin duftende Wasser.

»Sie schwimmt wie eine kleine Robbe.« Margarita lächelte und streckte sich neben Yennefer auf der hölzernen Pritsche aus. »Und anmutig ist sie wie eine Najade. Gibst du sie mir, Yenna?«

»Zu diesem Zweck habe ich sie hergebracht.«

»In welches Schuljahr soll ich sie aufnehmen? Kennt sie die Grundlagen?«

»Ja. Aber sie soll ruhig wie alle anderen im Kindergarten anfangen. Es wird ihr nicht schaden.«

»Vernünftig«, sagte Tissaia de Vries, die damit beschäftigt war, die Pokale auf der marmornen, von einer dünnen Schicht kondensierten Dampfes bedeckten Tischplatte zurechtzurücken. »Vernünftig, Yennefer. Es wird dem Mädchen leichterfallen, wenn sie zusammen mit den anderen Novizinnen beginnt.«

Ciri sprang aus dem Bassin, setzte sich auf den Rand der Verkleidung und plätscherte mit den Füßen im Wasser. Yennefer und Margarita schwätzten träge, wischten sich immer wieder die Gesichter mit Servietten ab, die sie in kaltes Wasser getaucht hatten. Tissaia, sittsam in ein Badetuch gehüllt, schaltete sich in das Gespräch nicht ein und machte den Eindruck, als gehe sie völlig darin auf, Ordnung auf dem Tisch zu schaffen.

»Ich bitte die hochedlen Damen untertänigst um Entschuldigung!«, rief plötzlich von oben her unsichtbar der Besitzer der Herberge. »Ihr mögt verzeihen, dass ich zu stören wage, aber  ... ein Offizier verlangt dringend Frau de Vries zu sprechen! Die Sache soll keinen Aufschub dulden!«

Margarita Laux-Antille begann zu kichern und zwinkerte Yennefer zu, worauf beide wie auf Kommando die Handtücher von den Hüften gleiten ließen und ziemlich gewagte Posen einnahmen.

»Der Offizier soll hereinkommen!«, rief Margarita und unterdrückte ein Lachen. »Bitte sehr! Wir sind bereit!«

»Wie die Kinder«, seufzte Tissaia de Vries kopfschüttelnd. »Bedecke dich, Ciri.«

Der Offizier kam herein, und der Streich der Zauberinnen verpuffte. Der Offizier wurde bei ihrem Anblick nicht verlegen, errötete nicht, machte keine Stielaugen. Denn der Offizier war eine Frau. Eine hochgewachsene Frau mit dunklem Teint, einem dicken Zopf und einem Schwert an der Seite.

»Herrin«, sagte die Frau trocken und verbeugte sich leicht zu Tissaia de Vries hin, dass ihr Kettenpanzer klirrte. »Ich melde die Ausführung deiner Aufträge. Ich bitte um Erlaubnis, in die Garnison zurückkehren zu dürfen.«

»Ich erlaube es«, antwortete Tissaia kurz. »Danke für die Eskorte und für die Hilfe. Glück auf den Weg.«

Yennefer setzte sich auf der Pritsche auf und betrachtete die schwarz-golden-rote Schlaufe am Oberarm der Kriegerin.

»Kenne ich dich nicht?«

Die Kriegerin verneigte sich steif, wischte sich die schweißbedeckte Stirn ab. Im Bad war es heiß, und sie trug Kettenpanzer und Lederwams.

»Ich war oft in Vengerberg, Frau Yennefer«, sagte sie. »Ich heiße Rayla.«

»Nach dem Ärmelband zu urteilen, dienst du in den Sondereinheiten von König Demawend?«

»Ja, Herrin.«

»In welchem Rang?«

»Als Hauptmann.«

»Sehr gut.« Margarita Laux-Antille lächelte. »Im Heer Demawends hat man, wie ich mit Genugtuung feststelle, endlich angefangen, Offizierspatente an Soldaten zu vergeben, die Mumm in der Hose haben.«

»Kann ich gehen?« Die Kriegerin straffte sich und legte die Hand auf den Schwertknauf.

»Ja.«

»Ich habe in deiner Stimme Feindseligkeit gespürt, Yenna«, sagte Margarita nach einer Weile. »Was hast du gegen die Frau Hauptmann?«

Yennefer stand auf, nahm zwei Pokale vom Tischchen.

»Hast du die Pfähle gesehen, die an den Kreuzwegen stehen?«, fragte sie. »Du musst sie gesehen haben, musst den Gestank der verfaulenden Leichname gerochen haben. Diese Pfähle sind ihr Einfall und ihr Werk. Das tun sie und ihre Untergebenen von den Sondereinheiten. Sadistenbande!«

»Das ist der Krieg, Yennefer. Diese Rayla hat mehr als einmal Kampfgefährten sehen müssen, die den Eichhörnchen lebendig in die Hände gefallen sind. Die an den Händen an Bäumen aufgehängt wurden, um als Zielscheibe für Pfeile zu dienen. Geblendet, kastriert, mit im Feuer verbrannten Füßen. Die Grausamkeiten, die die Scioa’tael verüben, wären sogar einer Falka würdig.«

»Die Methoden der Sondereinheiten erinnern auch aufs lebhafteste an die Methoden Falkas. Aber darum geht es nicht. Mich rührt nicht das Los der Elfen, ich weiß, wie der Krieg ist. Ich weiß auch, wie Kriege gewonnen werden. Sie werden mit Soldaten gewonnen, die mit Überzeugung und Aufopferung ihr Land, ihr Zuhause verteidigen. Nicht mit solchen wie dieser Rayla, mit Söldnern, die sich für Geld schlagen, die sich weder aufopfern können noch wollen. Sie wissen nicht einmal, was Aufopferung ist. Und wenn sie es wissen, verachten sie sie.«

»Drei Kreuze hinter ihre Aufopferung und ihre Verachtung. Was geht uns das an? Ciri, zieh dir was über, spring nach oben und hol eine neue Karaffe. Ich habe Lust, mir heute einen anzusaufen.«

Tissaia de Vries seufzte und schüttelte den Kopf. Margarita entging das nicht.

»Zum Glück«, kicherte sie, »sind wir nicht mehr in der Schule, geliebte Meisterin. Wir dürfen schon tun, was uns gefällt.«

»Sogar in Gegenwart einer künftigen Adeptin?«, fragte Tissaia giftig. »Also als ich Rektrix von Aretusa war  ...«

»Wir wissen es, wir wissen es«, fiel ihr Yennefer lächelnd ins Wort. »Obwohl wir es gern wollten, vergessen wir es nicht. Geh die Karaffe holen, Ciri.«

Während sie oben auf die Karaffe wartete, wurde Ciri Zeugin, wie die Kriegerin mit ihrer Abteilung von vier Soldaten abritt. Neugierig und erstaunt betrachtete sie deren Gestalten, Mienen, Kleidung und Waffen. Rayla, der Hauptmann mit dem schwarzen Zopf, stritt sich gerade mit dem Besitzer der Herberge.

»Ich werde nicht bis zum Morgengrauen warten! Und es kümmert mich einen Dreck, dass die Tore geschlossen sind! Ich will sofort vor die Mauer! Ich weiß, dass die Herberge im Stall eine eigene Pforte hat! Ich befehle, sie zu öffnen!«

»Die Vorschriften  ...«

»Einen Dreck gehen mich die Vorschriften an! Ich führe die Befehle von Erzmeisterin de Vries aus!«

»Schon gut, Hauptmann, schreit nicht. Ich mache Euch auf  ...«

Besagte Pforte erwies sich als schmaler, solide verriegelter Durchlass, der direkt vor die Stadtmauer führte. Ehe Ciri aus der Hand des Knechts die Karaffe entgegennahm, sah sie, wie jene Pforte geöffnet wurde und Rayla mit ihrer Abteilung in die Nacht hinausritt.

Sie begann sich Gedanken zu machen.

 

»Na endlich«, freute sich Margarita, sei es über den Anblick Ciris oder der von ihr mitgebrachten Karaffe. Ciri stellte die Karaffe auf das Tischchen – ganz offensichtlich falsch, denn Tissaia de Vries rückte sie sogleich zurecht. Beim Eingießen verdarb Yennefer die ganze Anordnung, und Tissaia musste wieder korrigieren. Mit Schaudern stellte sich Ciri Tissaia als Lehrerin vor.

Yennefer und Margarita nahmen das unterbrochene Gespräch wieder auf, wobei sie ausgiebig der Karaffe zusprachen. Für Ciri wurde klar, dass sie schon bald wieder nach einer neuen würde laufen müssen. Sie hing ihren Gedanken nach, während sie der Unterhaltung der Zauberinnen lauschte.

»Nein, Yenna.« Margarita schüttelte den Kopf. »Du bist, wie ich sehe, nicht auf dem Laufenden. Ich habe mit Lars Schluss gemacht. Das ist schon vorbei. Elaine deireádh, wie die Elfen sagen.«

»Und deswegen hast du Lust, dir einen anzusaufen?«

»Unter anderem«, bestätigte Margarita Laux-Antille. »Mir ist traurig zumute, ich verhehle es nicht. Immerhin war ich vier Jahre lang mit ihm zusammen. Aber ich musste Schluss machen. Bei so was kommt nichts heraus  ...«

»Zumal«, platzte Tissaia de Vries heraus, während sie den goldenen Wein in dem Pokal betrachtete, den sie hin und her neigte, »Lars verheiratet war.«

»Das nun gerade« – die Zauberin zuckte mit den Schultern – »halte ich für bedeutungslos. Alle attraktiven Männer in dem mich interessierenden Alter sind verheiratet, da ist nichts zu machen. Lars hat mich geliebt, und eine Zeitlang glaubte auch ich  ... Ach, was ist da groß zu sagen. Er wollte zu viel. Er hat meine Freiheit bedroht, und mir wird beim bloßen Gedanken an Monogamie übel. Übrigens, ich habe mir an dir ein Vorbild genommen, Yenna. Erinnerst du dich an unser Gespräch damals in Vengerberg? Als du dich entschlossen hast, mit diesem Hexer Schluss zu machen? Ich habe dir damals geraten, es dir zu überlegen, habe dir gesagt, dass die Liebe nicht auf der Straße liegt. Aber du hattest recht. Liebe ist das eine, das Leben etwas anderes. Liebe vergeht  ...«

»Hör nicht auf sie, Yennefer«, sagte Tissaia kalt. »Sie ist verbittert und voll Bedauern. Weißt du, warum sie nicht zu dem Bankett in Aretusa geht? Weil sie sich schämt, sich dort allein zu zeigen, ohne den Mann, mit dem man sie seit vier Jahren in Verbindung bringt. Um den man sie beneidet. Den sie verloren hat, weil sie seine Liebe nicht zu schätzen wusste.«

»Vielleicht sollten wir von etwas anderem reden?«, schlug Yennefer mit scheinbar gleichgültiger, doch ein wenig veränderter Stimme vor. »Ciri, schenk uns ein. Verdammt, ist diese Karaffe klein. Sei so lieb und hol noch eine.«

»Hol zwei.« Margarita lächelte. »Zur Belohnung kriegst du auch ein Schlückchen und darfst dich zu uns setzen, damit du keine langen Ohren mehr zu machen brauchst. Deine Erziehung beginnt heute, sofort, noch ehe du zu mir nach Aretusa kommst.«

»Erziehung!« Tissaia verdrehte die Augen zur Decke. »Götter!«

»Still, geliebte Meisterin.« Margarita schlug sich mit gespieltem Zorn auf die nasse Hüfte. »Jetzt bin ich die Rektrix der Schule! Du hast es nicht geschafft, mich beim Abschlussexamen durchfallen zu lassen!«

»Tut mir leid.«

»Mir auch, stell dir vor. Ich hätte jetzt eine Privatpraxis wie Yenna, bräuchte mich nicht mit Adeptinnen abzuquälen, bräuchte den Heulsusen nicht die Nase zu putzen und die Aufsässigen nicht auszuschimpfen. Ciri, hör mir zu und merk es dir. Eine Zauberin handelt stets. Ob gut oder schlecht, zeigt sich später. Aber man muss handeln, das Leben kühn beim Schopfe fassen. Glaub mir, Kleine, man bedauert nur Tatenlosigkeit, Unentschlossenheit, Zögern. Taten und Entscheidungen, auch wenn sie manchmal Trauer und Leid bringen, bedauert man nicht. Schau dir diese ernste Dame an, die dort sitzt, das Gesicht verzieht und pedantisch alles zurechtrückt, was sie nur kann. Das ist Tissaia de Vries, die Erzmeisterin, die Dutzende von Zauberinnen ausgebildet hat. Und ihnen beigebracht hat, dass man handeln muss. Dass Unentschlossenheit  ...«

»Hör auf, Rita.«

»Tissaia hat recht«, sagte Yennefer, den Blick noch immer in die Ecke des Bades gerichtet. »Hör auf. Ich weiß, dass du wegen Lars traurig bist, aber mach daraus keine Lebensregeln. Das Mädchen hat für solche Weisheiten noch Zeit. Und die lernt man nicht in der Schule. Ciri, geh die Karaffen holen.«

Ciri stand auf. Sie war schon vollständig angezogen.

Und vollauf entschlossen.

 

»Was?«, schrie Yennefer. »Was soll das heißen, sie ist weggeritten?«

»Sie hat angeordnet  ...«, stotterte der Wirt, bleich und mit dem Rücken an die Wand gedrückt. »Sie hat angeordnet, ihr ein Pferd zu satteln  ...«

»Und du hast ihr gehorcht? Statt dich an uns zu wenden?«

»Herrin! Woher sollte ich wissen? Ich war mir sicher, dass sie auf Euren Befehl hin aufbricht  ... Mir ist überhaupt nicht in den Sinn gekommen  ...«

»Du verdammter Schwachkopf!«

»Ruhig, Yennefer.« Tissaia legte die Hand an die Stirn. »Lass dich nicht von Gefühlen hinreißen. Es ist Nacht. Sie werden sie nicht zum Tor hinauslassen.«

»Sie hat angeordnet«, flüsterte der Wirt, »ihr die Pforte zu öffnen  ...«

»Und ihr habt sie geöffnet?«

»Wegen dieser Zusammenkunft, Herrin« – der Wirt senkte den Blick  –, »ist die Stadt voller Zauberer  ... Die Leute haben Angst, niemand wagt ihnen in die Quere zu kommen  ... Wie konnte ich es ihr abschlagen? Sie hat genauso wie Ihr gesprochen, Herrin, haargenau mit der gleichen Stimme  ... Und genauso dreingeschaut  ... Niemand hat gewagt, ihr auch nur in die Augen zu blicken, geschweige denn Fragen zu stellen  ... Sie war Euch ganz ähnlich  ... wie ein Ei dem anderen  ... Sie hat Feder und Tinte verlangt  ... und einen Brief geschrieben.«

»Gib her!«

Tissaia de Vries war schneller.

 

Frau Yennefer!, las sie laut vor.

 

Verzeih mir. Ich reite nach Hirundum, denn ich will Geralt sehen. Ehe ich in die Schule gehe, will ich ihn sehen. Verzeih mir den Ungehorsam, aber ich kann nicht anders. Ich weiß, dass du mich bestrafen wirst, aber ich will Unentschlossenheit und Zögern nicht bedauern. Wenn ich etwas bedauern muss, dann soll es Tat sein und Handeln. Ich bin Zauberin. Ich fasse das Leben beim Schopfe. Ich komme zurück, sobald ich nur kann.

Ciri

 

»Ist das alles?«

»Es gibt noch ein Postskriptum.«

 

Sag Frau Rita, dass sie mir in der Schule nicht die Nase wird putzen müssen.

 

Margarita Laux-Antille schüttelte ungläubig den Kopf. Yennefer aber fluchte. Der Herbergswirt wurde rot und sperrte den Mund auf. Er hatte schon viele Flüche gehört, doch so einen noch nicht.

 

Der Wind wehte vom Land zur See hin. Wolken wogten auf den Mond zu, der überm Wald hing. Die Straße nach Hirundum versank in Dunkelheit. Galopp wurde zu gefährlich. Ciri zügelte das Pferd, ließ es traben. Im Schritt zu reiten fiel ihr überhaupt nicht ein. Sie hatte es eilig.

Aus der Ferne war das Grollen eines heranziehenden Gewitters zu hören, der Horizont wurde immer wieder von Blitzen erhellt, die die gezackte Silhouette der Baumwipfel aus dem Dunkel rissen.

Sie hielt das Pferd an. Sie war an einer Wegscheide angelangt – die Straße gabelte sich, und beide Zweige sahen gleich aus.

Warum hat Fabio nichts von der Wegscheide gesagt? Ach, was soll’s, ich verirre mich ja niemals, ich weiß ja immer, wohin ich gehen oder reiten muss  ...

Warum also weiß ich jetzt nicht, welchen Weg ich nehmen soll?

Eine riesige Gestalt glitt lautlos über ihren Kopf hinweg. Ciri fühlte, wie ihr das Herz bis zum Hals schlug. Das Pferd wieherte, bäumte sich auf und galoppierte los, wobei es den Weg nach rechts nahm. Gleich drauf hielt sie es an.

»Das war nur eine gewöhnliche Eule.« Sie atmete auf, versuchte sich und das Pferd zu beruhigen. »Ein gewöhnlicher Vogel  ... Da gibt es nichts zu fürchten  ...«

Der Wind wurde stärker, die dunklen Wolken verdeckten den Mond vollends. Doch vor ihr, wo es im Verlauf der Straße eine kleine Lücke im Wald gab, war es hell. Sie ritt schneller, Sand stiebte unter den Hufen.

Bald schon musste sie anhalten. Vor ihr lagen ein Abhang und das Meer, aus dem der bekannte schwarze Kegel einer Insel emporwuchs. Von der Stelle aus, wo sie sich befand, waren weder Garstang, Loxia noch Aretusa zu sehen. Sie sah nur den einsamen, schlanken Turm, der Thanedd krönte.

Tor Lara.

Es donnerte, und einen Augenblick später verband die blendend helle Spur eines Blitzes den bewölkten Himmel mit der Turmspitze. Der Tor Lara starrte sie aus den schwarzen Pupillen der Fenster an, es schien, als sei im Inneren des Turmes für eine Sekunde ein Feuer entflammt.

Tor Lara  ... Der Möwenturm  ... Warum macht mir dieser Name so Angst?

Ein Windstoß riss an den Bäumen, die Zweige begannen zu rauschen. Ciri kniff die Lider zusammen, Staub und kleine Blätter schlugen ihr gegen die Wange. Sie wendete das schnaubende und seitlich ausbrechende Pferd. Sie hatte die Orientierung wiedergefunden. Die Insel Thanedd wies nach Norden; sie aber musste in westlicher Richtung reiten. Der sandige Weg lag als deutliches Band in der Finsternis. Sie ging zum Galopp über.

Abermals donnerte es, im Lichtschein des Blitzes erblickte Ciri plötzlich Reiter. Dunkle, undeutliche, sich rasch bewegende Silhouetten zu beiden Seiten der Straße. Sie hörte einen Ruf: »Gar’ean!«

Ohne zu überlegen, hielt sie das Pferd an, wendete und galoppierte los. Hinter ihr Schreie, Pfiffe, Wiehern, Hufgetrappel.

»Gar’ean! Dh’oine!«

Galopp, Hufgetrappel, die vorbeischießende Luft. Dunkelheit, in der die weißen Stämme von Birken am Straßenrand aufblitzen. Donnern. Ein Blitz, in seinem Licht versuchen zwei Reiter, ihr den Weg abzuschneiden. Einer streckt die Hand aus, will die Zügel packen. An seiner Mütze ist ein Eichhörnchenschwanz befestigt. Ciri stößt dem Pferd die Fersen in die Flanken, duckt sich auf seinen Hals, die Geschwindigkeit trägt sie vorbei. Hinter ihr Schreie, Pfiffe, Hufgetrappel. Ein Blitz.

»Spar’le, Yaevinn!«

Karriere, Karriere! Schneller, Pferd! Donner. Blitz. Eine Wegscheide. Nach links! Ich verirre mich nie! Wieder eine Abzweigung. Nach rechts! Karriere, Pferd! Schneller, schneller!

Der Weg geht aufwärts, unter den Hufen ist Sand, obwohl sie das Pferd antreibt, wird es langsamer  ...

Auf dem Gipfel der Anhöhe blickte sie zurück. Wieder erhellte ein Blitz den Weg. Er war völlig leer. Sie lauschte, hörte aber nur den Wind im Laub rauschen. Es donnerte.

Hier ist niemand. Die Eichhörnchen  ... Das ist nur eine Erinnerung an Kaedwen. Die Rose von Shaerrawedd  ... Das alles ist mir nur so vorgekommen. Hier gibt es keine lebendige Seele, niemand verfolgt mich  ...

Ein Windstoß traf sie. Der Wind weht vom Land her, dachte sie, und ich fühle ihn auf der rechten Wange  ...

Ich habe mich verirrt.

Ein Blitz. In seinem Licht funkelt die Meeresoberfläche auf, vor ihrem Hintergrund der schwarze Kegel der Insel Thanedd. Und der Tor Lara. Der Möwenturm. Der Turm, der sie anzieht wie ein Magnet  ... Doch ich will nicht zu diesem Turm. Ich reite nach Hirundum. Denn ich muss Geralt sehen.

Wieder blitzte es.

Zwischen ihr und dem Abhang stand ein schwarzes Pferd. Und darauf saß ein Ritter mit einem Helm, der mit den Flügeln eines Raubvogels verziert war. Die Flügel beginnen plötzlich zu schlagen, der Vogel steigt zum Flug auf  ...

Cintra!

Lähmende Angst. Die Hände um den Zügelriemen gekrallt, dass es schmerzt. Ein Blitz. Der schwarze Ritter spornt sein Pferd an. Statt eines Gesichts hat er eine gespenstische Maske. Die Flügel schlagen  ...

Das Pferd fiel von selbst in Galopp. Dunkelheit, von Blitzen zerrissen. Der Wald endet. Unter den Hufen das Plätschern und Schmatzen von Morast. Hinter ihr rauschen die Flügel des Raubvogels. Immer näher  ... Näher  ...

Wütender Galopp, vom Tempo tränen die Augen. Blitze zerreißen den Himmel, in ihrem Lichte sieht Ciri Erlen und Weiden zu beiden Seiten der Straße. Doch das sind keine Bäume. Das sind die Diener des Erlkönigs. Die Diener des schwarzen Ritters, der hinter ihr galoppiert, die Flügel des Raubvogels rauschen an seinem Helm. Die missgestalteten Ungeheuer zu beiden Seiten der Straße strecken die knorrigen Arme nach ihr aus, lachen wild aus den aufgerissenen schwarzen Rachen der Astlöcher. Ciri legt sich auf den Pferdehals. Die Äste pfeifen, peitschen, klammern sich an ihre Kleidung. Die krummen Stämme knarren, die Astlöcher klappern, brechen in höhnisches Gelächter aus  ...

Löwenjunges von Cintra! Kind des Älteren Blutes!

Der schwarze Ritter ist schon hinter ihr, Ciri spürt, wie seine Hand versucht, sie an den Haaren zu packen. Das von einem Schrei vorangetriebene Pferd wirft sich nach vorn, nimmt mit jähem Sprung ein unsichtbares Hindernis, bricht krachend durch Unterholz, stolpert  ...

Sie zog die Zügel an, lehnte sich im Sattel zurück, wendete das schnaubende Pferd. Sie schrie wild, wütend. Sie riss das Schwert aus der Scheide, ließ es überm Kopfe wirbeln. Das ist nicht mehr Cintra! Ich bin kein Kind mehr! Ich bin nicht mehr wehrlos! Ich erlaube nicht  ...

»Ich erlaube es nicht! Du wirst mich nicht mehr anrühren! Du wirst mich niemals anrühren!«

Das Pferd landete mit Klatschen und Plätschern im Wasser, das ihm bis zum Bauch reichte. Ciri beugte sich vor, schrie, stieß dem Tier die Fersen in die Flanken, riss es auf den Damm zurück. Teiche, dachte sie. Fabio hat von Fischteichen gesprochen. Das ist Hirundum. Ich bin da. Ich verirre mich nicht  ...

Ein Blitz. Hinter ihr der Damm, voraus die schwarze Wand des Waldes, gen Himmel gezackt wie eine Säge. Und niemand. Die Stille wird nur vom Heulen des Windes unterbrochen. Irgendwo in den Sümpfen schnattert eine erschrockene Ente.

Niemand. Auf dem Damm ist niemand. Niemand verfolgt mich. Es war ein Trugbild, ein Albtraum. Eine Erinnerung an Cintra. Es ist mir nur so vorgekommen.

In der Ferne ein Lichtschein. Eine Laterne. Oder ein Feuer. Das ist die Farm. Hirundum. Es ist nicht mehr weit. Nur noch eine Anstrengung  ...

Ein Blitz. Einer, noch einer, ein dritter. Ohne Donner. Der Wind erstirbt plötzlich. Das Pferd wiehert, wirft den Kopf hin und her und bäumt sich auf.

Am schwarzen Himmel erscheint ein milchiges, rasch heller werdendes Band, gekrümmt wie eine Schlange. Wieder stößt der Wind in die Weiden, wirbelt vom Damm staubige Blätter und vertrocknetes Gras auf.

Der ferne Lichtschein verschwindet. Er versinkt und verschwimmt im Gefolge einer Milliarde blauer Feuerchen, von denen plötzlich die gesamte Sumpflandschaft aufflammt und brennt. Das Pferd schnaubt, wiehert, geht den Damm entlang durch. Ciri hält sich mit Mühe im Sattel.

Auf dem sich am Himmel einherwindenden Band erscheinen undeutlich die schrecklichen Umrisse von Reitern. Sie kommen immer näher, sind immer deutlicher zu sehen. Es wanken die Stierhörner und die zerzausten Federbüsche auf den Helmen, unter den Helmen glänzen weiß Totenköpfe. Die Reiter sitzen auf Pferdeskeletten, an denen die Schabracken in Fetzen hängen. Ein wütender Wind heult in den Weiden, die Klingen der Blitze zerreißen ohne Unterlass den Himmel. Der Wind heult immer lauter. Nein, das ist nicht der Wind. Das ist der Gesang von Gespenstern.

Die albtraumhafte Kavalkade biegt ab, hält auf sie zu. Unter den Hufen der Gespensterpferde stiebt der Lichtschimmer der blassen Flämmchen, die über den Sümpfen schweben. An der Spitze der Kavalkade galoppiert der König der Wilden Jagd. Ein durchgerosteter Helm schaukelt auf dem Totenkopf, wo hinter den gähnenden Löchern der Augenhöhlen bläuliches Feuer brennt. Der zerfetzte Mantel weht. Auf dem rostbedeckten Brustharnisch klappert die Halsberge, leer wie altes Bohnenstroh. Einst waren dort Edelsteine eingesetzt. Doch sie sind während der wilden Jagden am Himmel entlang herausgefallen. Und zu Sternen geworden  ...

Das ist nicht wahr! Das gibt es nicht! Das ist ein Albtraum, ein Trugbild, eine Täuschung! Das kommt mir nur so vor!

Der König der Wilden Jagd hält das Hengstskelett an, bricht in wildes, entsetzliches Gelächter aus.

Kind des Älteren Blutes! Du gehörst zu uns! Du bist eine von uns! Schließ dich unserem Trupp an, schließ dich der Wilden Jagd an! Du wirst jagen, jagen bis zum Ende, bis in alle Ewigkeit, bis zum Ende des Seins! Du gehörst uns, sternäugige Tochter des Chaos! Schließ dich uns an, erfahre die Freude der Wilden Jagd! Du bist unser, bist eine von uns! Unter uns ist dein Platz!

»Nein!«, schrie sie. »Geht fort! Ihr seid Leichen!«

Der König der Wilden Jagd lacht, es klappern die verfaulten Zähne über dem verrosteten Kragen der Rüstung. Blau flammen die Augenhöhlen in den Totenköpfen.

Ja, wir sind Leichen. Du aber bist der Tod.

Ciri schmiegte sich an den Hals des Pferdes. Sie brauchte es nicht anzutreiben. Das Tier spürte hinter sich die heranziehenden Gespenster und sprengte in halsbrecherischer Karriere den Damm entlang.

 

Bernie Hofmeier, Halbling, Farmer von Hirundum, hob den Lockenkopf und lauschte dem fernen Echo des Donners.

»Eine gefährliche Sache«, sagte er, »so ein Gewitter ohne Regen. Irgendwo schlägt der Blitz ein, und schon brennt es  ...«

»Ein bisschen Regen käme zupass«, seufzte Rittersporn, während er die Wirbel der Laute ein Stück weiterdrehte, »denn die Luft kann man schon mit dem Messer schneiden  ... Das Hemd klebt am Rücken, die Mücken stechen  ... Aber es wird sich wohl verlaufen. Das Gewitter hat seine Kreise gezogen, aber seit einiger Zeit blitzt es irgendwo im Norden. Wahrscheinlich überm Meer.«

»Es zieht sich über Thanedd zusammen«, bestätigte der Halbling. »Das ist der höchste Punkt in der Gegend. Dieser Turm auf der Insel, Tor Lara, zieht Blitze verdammt stark an. Bei einem ordentlichen Gewitter sieht es aus, als stünde er in Flammen. Ein Wunder, dass er nicht in Stücke zerspringt  ...«

»Das ist Magie«, stellte der Troubadour im Brustton der Überzeugung fest. »Auf Thanedd ist alles magisch, sogar der Fels selber. Aber die Zauberer haben keine Angst vor Blitzen. Ja, was sag ich! Weißt du, Bernie, dass sie Blitze einzufangen vermögen?«

»Na weißt du! Das lügst du, Rittersporn.«

»Soll mich der Donner  ...« Der Dichter verstummte mit einem unruhigen Blick gen Himmel. »Soll mich der Hahn hacken, wenn ich lüge. Ich sage dir, Hofmeier, die Magier fangen Blitze. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Der alte Gorazd, der, den sie später auf der Anhöhe von Sodden umgebracht haben, hat einmal vor meinen Augen einen Blitz eingefangen. Er hat ein langes Stück Draht genommen, das eine Ende an der Spitze seines Turmes befestigt, das andere aber  ...«

»Das andere Ende muss man in eine Flasche stecken«, piepste plötzlich von der Veranda her Hofmeiers Sohn, ein ganz kleiner Halbling mit einem Haarschopf dicht und kraus wie ein Schafsfell. »In eine runde Glasflasche wie die, in denen der Papa Wein brennt. Der Blitz huscht durch den Draht in die Flasche  ...«

»Ins Haus, Franklin!«, rief der Farmer. »Ins Bett, schlafen, aber plötzlich! Es ist gleich Mitternacht, und morgen gibt’s Arbeit! Und wenn ich dich erwische, wie du dir während eines Gewitters mit Drähten oder Flaschen zu schaffen machst, dann setzt’s was mit dem Riemen, dass du zwei Wochen lang nicht auf dem Hintern sitzen kannst! Petunia, hol ihn dort weg! Und uns bring noch etwas Bier!«

»Ihr habt genug«, sprach Petunia Hofmeier zornig, während sie den Sohn von der Veranda holte. »Ihr habt schon genug gesüffelt.«

»Mecker nicht. Jeden Augenblick kann der Hexer heimkommen. Es gehört sich, den Gast zu bewirten.«

»Wenn der Hexer zurückkommt, bringe ich welches. Für ihn.«

»Oh, was für ein geiziges Weib«, knurrte Hofmeier, aber so, dass seine Frau es nicht hörte. »Ganz wie ihre Sippschaft, die Biberveldts von der Au, die einer wie der andere die Knickrigkeit erfunden haben  ... Aber der Hexer lässt sich irgendwie lange nicht blicken. Seit er zu den Teichen gegangen ist, ist er wie vom Erdboden verschwunden. Ein sonderbarer Mensch ist das. Hast du gesehen, wie er gegen Abend die Mädchen angeschaut hat, Zinnia und Tangerine, als sie auf dem Hof spielten? Seltsam hat er dreingeschaut. Und jetzt  ... Ich werde den Eindruck nicht los, dass er gegangen ist, um allein zu sein. Und zu mir ist er zu Gast gekommen, weil meine Farm abgelegen liegt, weit von den anderen entfernt. Du kennst ihn besser, Rittersporn, sag  ...«

»Ich kenne ihn?« Der Dichter schlug eine Mücke im Genick tot, klimperte auf der Laute, den Blick auf die dunklen Silhouetten der Weiden an den Teichen gerichtet. »Nein, Bernie. Ich kenne ihn nicht. Aber etwas geht mit ihm vor, das sehe ich. Warum ist er hierhergekommen, nach Hirundum? Um näher an der Insel Thanedd zu sein? Aber als ich ihm gestern vorgeschlagen habe, gemeinsam nach Gors Velen zu reiten, von wo aus man Thanedd sieht, hat er ohne zu überlegen abgelehnt. Was hält ihn hier? Habt ihr ihm irgendwelche lukrativen Aufträge gegeben?«

»Woher denn«, murmelte der Halbling. »Offen gesagt, ich glaube überhaupt nicht, dass es hier wirklich irgendein Ungeheuer gibt. Das Kind, das im Teich ertrunken ist, kann einen Krampf gehabt haben. Und gleich fangen alle zu schreien an, das sei ein Nix oder eine Kikimora, und man müsse einen Hexer kommen lassen  ... Aber Geld hat man ihm so verschwindend wenig geboten, dass es eine Schande ist. Und er? Drei Nächte lang kriecht er auf den Dämmen herum, am Tage schläft er oder sitzt wortlos da wie ausgestopft, betrachtet die Kinder, das Haus  ... Seltsam. Ich würde sagen, eigenartig.«

»Das würdest du gut sagen.«

Ein Blitz flammte auf, erhellte den Hof und die Farmgebäude. Für einen Augenblick erglänzten die Ruinen der Elfenvilla am Ende des Dammes. Einen Moment später rollte der Donner über die Gärten hinweg. Ein heftiger Wind kam auf, die Bäume und die Büsche an den Teichen begannen zu rauschen und bogen sich, der Wasserspiegel kräuselte sich und wurde matt, sträubte die ausgestellten Seerosenblätter.

»Das Gewitter kommt doch noch zu uns.« Der Farmer schaute zum Himmel. »Vielleicht haben sie es mit Zauberei von der Insel verjagt? Auf Thanedd sind von denen gut zweihundert zusammengekommen  ... Was meinst du, Rittersporn, worüber werden sie dort beraten auf dieser Zusammenkunft? Ob dabei etwas Gutes herauskommt?«

»Für uns? Wohl kaum.« Der Troubadour strich mit dem Daumen über die Saiten der Laute. »Diese Zusammenkünfte sind für gewöhnlich Modenschauen, Intrigen, eine Gelegenheit zu Verleumdungen und internen Abrechnungen. Streitereien darum, ob man die Magie verbreiten oder einer Elite vorbehalten soll. Zank zwischen denen, die Königen dienen, und denen, die lieber von weitem Druck auf die Könige ausüben  ...«

»Ha«, sagte Bernie Hofmeier. »Dann kann ich mir vorstellen, dass es während der Zusammenkunft auf Thanedd nicht schlechter blitzen und donnern wird als bei einem Gewitter.«

»Mag sein. Aber was geht uns das an?«

»Dich nichts«, sagte der Halbling mürrisch. »Denn du klimperst immer nur auf der Laute und trinkst. Blickst auf die Welt ringsum und siehst nichts als Reime und Noten. Aber uns haben allein in der letzten Woche Berittene zweimal Kohl und Rüben zertrampelt. Das Heer macht Jagd auf die Eichhörnchen, die Eichhörnchen streifen umher und verdrücken sich, und die einen wie die anderen suchen sich ihren Weg durch unseren Kohl  ...«

»Man sorgt sich nicht um den Kohl, wenn der Wald brennt«, rezitierte der Dichter.

»Wenn du, Rittersporn« – Bernie Hofmeier blickte ihn scheel an  –, »was sagst, weiß man nie, ob man weinen, lachen oder dir eins in die Fresse hauen soll. Ich meine es ernst! Und ich sag dir, es sind widerwärtige Zeiten angebrochen. An den Landstraßen Pfähle und Galgen, auf den Lichtungen und Schneisen Leichen, verdammt, so muss dieses Land zu Zeiten Falkas ausgesehen haben. Und wie soll man hier leben? Am Tag kommen die Leute des Königs und drohen, dass sie uns einlochen, wenn wir den Eichhörnchen helfen. Und nachts tauchen die Elfen auf, und dann versuch mal, ihnen Hilfe zu verweigern! Da versprechen sie gleich poetisch, dass wir sehen werden, wie sich das Antlitz der Nacht rötet. Das sind solche Poeten, dass man kotzen könnte. Und so sitzen wir zwischen zwei Mühlsteinen  ...«

»Du rechnest damit, dass die Zusammenkunft der Zauberer daran etwas ändert?«

»Ja doch. Du hast selbst gesagt, dass sich unter den Magiern zwei Parteien streiten. Es ist schon früher vorgekommen, dass die Zauberer mäßigend auf die Könige eingewirkt, dass sie mit Kriegen und Aufständen Schluss gemacht haben. Ebendadurch haben die Magier vor drei Jahren den Frieden mit Nilfgaard bewirkt. Das kann auch jetzt  ...«

Bernie Hofmeier unterbrach sich, lauschte. Rittersporn brachte mit der Handfläche die klingenden Saiten zum Verstummen.

Aus der Finsternis auf dem Damm trat der Hexer hervor. Er kam langsam auf das Haus zu. Wieder zuckte ein Blitz. Als es donnerte, war der Hexer schon bei ihnen auf der Veranda.

»Und, wie steht’s, Geralt?«, fragte Rittersporn, um das lastende Schweigen zu brechen. »Hast du ein Untier aufgespürt?«

»Nein. Das ist keine Nacht zum Aufspüren. Es ist eine unruhige Nacht. Unruhig  ... Ich bin müde, Rittersporn.«

»Also setz dich, ruh dich aus.«

»Du hast mich nicht verstanden.«

»In der Tat«, murmelte der Halbling, während er zum Himmel blickte und lauschte. »Eine unruhige Nacht, irgendwas Ungutes liegt in der Luft  ... Das Vieh rumort im Stall  ... Und im Sturmwind hört man Schreie  ...«

»Die Wilde Jagd«, sagte der Hexer leise. »Schließt die Fensterläden gut, Herr Hofmeier.«

»Die Wilde Jagd?«, wunderte sich Bernie. »Gespenster?«

»Keine Angst. Sie zieht hoch oben vorbei. Im Sommer zieht sie immer weit oben. Aber die Kinder könnten aufwachen. Die Jagd bringt Albträume. Es ist besser, die Fensterläden zu schließen.«

»Die Wilde Jagd«, sagte Rittersporn und blickte unruhig empor, »kündigt Krieg an.«

»Unsinn. Aberglaube.«

»Aber! Kurz vor dem Angriff Nilfgaards auf Cintra  ...«

»Still!« Der Hexer schnitt ihm mit einer Geste das Wort ab, richtete sich plötzlich auf und spähte ins Dunkel.

»Was  ...«

»Reiter.«

»Verdammt«, zischte Hofmeier und sprang von der Bank auf. »Nachts können das nur Scioa’tael sein  ...«

»Ein Pferd«, unterbrach ihn der Hexer und nahm das Schwert von der Bank. »Ein wirkliches Pferd. Der Rest sind Gespenster von der Jagd  ... Verdammt, das kann nicht sein  ... Im Sommer?«

Rittersporn war ebenfalls aufgesprungen, doch er schämte sich, wegzulaufen, denn weder Geralt noch Bernie schickten sich dazu an. Der Hexer zog das Schwert und lief auf den Damm zu, der Halbling folgte ihm, ohne zu zögern, mit einer Mistgabel bewaffnet. Wieder blitzte es, auf dem Damm schien für einen Augenblick ein galoppierendes Pferd auf. Dem Pferd aber jagte etwas Unbestimmtes nach, etwas, das ein unregelmäßig aus Finsternis und Lichtschein zusammengeballter Schwaden war, ein Wirbel, ein Trugbild. Etwas, das panische Furcht erregte, abscheuliches, die Eingeweide umdrehendes Entsetzen.

Der Hexer schrie und hob das Schwert. Der Reiter bemerkte ihn, beschleunigte den Galopp, schaute sich um. Abermals schrie der Hexer. Der Donner krachte.

Es blitzte, doch diesmal war es kein Blitz. Rittersporn kniete neben der Bank nieder und wäre daruntergekrochen, doch sie erwies sich als zu niedrig. Bernie ließ die Mistgabel sinken. Petunia Hofmeier, die aus dem Haus gelaufen kam, schrie durchdringend auf.

Das blendende Licht materialisierte sich zu einer durchsichtigen Sphäre, in der eine Gestalt aufschien, die rasend schnell Umrisse und Formen annahm. Rittersporn erkannte sie sofort. Er kannte diese schwarzen, weit fallenden Locken und den Obsidianstern auf dem Samtband. Was er nicht kannte und noch niemals gesehen hatte, war das Gesicht. Das Gesicht einer Furie, des leibhaftigen Zornes, das Gesicht einer Göttin von Rache, Vernichtung und Tod.

Yennefer riss die Hände hoch und schrie einen Spruch, aus ihren Handflächen schossen zischend und funkensprühend Spiralen, die den Nachthimmel zerrissen und sich tausendfach auf der Oberfläche der Teiche spiegelten. Die Spiralen bohrten sich wie Wurfspieße in den Schwaden, der den einsamen Reiter verfolgte. Der Schwaden begann zu brodeln, Rittersporn schien es, als höre er gespenstische Schreie, als sehe er die einherhuschenden, grauenhaften Silhouetten von Gespensterpferden. Er sah es den Bruchteil einer Sekunde lang, denn der Schwaden ballte sich plötzlich zu einer Kugel zusammen und schoss empor, gen Himmel, wobei er sich streckte und einen Schweif wie ein Komet nach sich zog. Die eintretende Dunkelheit wurde nur vom unsteten Schein der Laterne durchbrochen, die Petunia Hofmeier hielt.

Der Reiter brachte das Pferd auf dem Hof vor dem Haus zum Stehen, glitt aus dem Sattel, wankte. Rittersporn erkannte sofort, wer es war. Er hatte dieses feingliedrige, aschblonde Mädchen noch nie gesehen. Doch er hatte sie augenblicklich erkannt.

»Geralt  ...«, sagte das Mädchen leise. »Frau Yennefer  ... Entschuldige  ... Ich musste. Du weißt doch  ...«

»Ciri«, sagte der Hexer. Yennefer tat einen Schritt auf das Mädchen zu, blieb dann aber stehen. Sie schwieg.

Zu wem wird sie gehen, dachte Rittersporn. Keiner der beiden, weder der Hexer noch die Zauberin, machten einen Schritt oder eine Geste. Zu wem wird sie zuerst gehen? Zu ihm? Oder zu ihr?

Ciri ging zu keinem von beiden. Ihr blieb keine Wahl. Denn sie wurde ohnmächtig.

 

Das Haus war leer, der Halbling und seine ganze Familie waren bei Tagesanbruch an die Arbeit gegangen. Ciri stellte sich schlafend, hörte aber, wie Geralt und Yennefer hinausgingen. Sie glitt aus dem Bett, zog sich rasch an, schlich sich aus der Stube und folgte den beiden zum Garten.

Geralt und Yennefer bogen auf einen Damm zwischen den Teichen ab, die weiß waren von Seerosen und gelblich von Mummeln. Ciri verbarg sich hinter einer halb eingefallenen Mauer und beobachtete die beiden durch einen Spalt. Sie glaubte, dieser Rittersporn, der berühmte Dichter, schlafe noch. Doch sie irrte sich. Der Dichter Rittersporn schlief nicht. Und er ertappte sie auf frischer Tat.

»He«, sagte er, während er lässig und kichernd herankam. »Gehört sich das, zu lauschen und heimlich zu beobachten? Mehr Diskretion, Kleine. Lass sie ein wenig miteinander allein sein.«

Ciri wurde rot, presste aber sogleich die Lippen zusammen. »Erstens bin ich nicht klein«, zischte sie trotzig. »Und zweitens, ich störe sie doch wohl nicht, oder?«

Rittersporn wurde etwas ernster. »Wahrscheinlich nicht«, sagte er. »Mir scheint sogar, dass du ihnen hilfst.«

»Ich? Wobei?«

»Stell dich nicht dumm. Gestern, das war schlau. Aber mich hast du nicht täuschen können. Du hast die Ohnmacht gespielt, stimmt’s?«

»Stimmt«, murmelte sie und wandte das Gesicht ab. »Frau Yennefer hat es gemerkt, aber Geralt nicht  ...«

»Beide haben dich ins Haus getragen. Ihre Hände haben sich berührt. Sie haben fast bis zum Morgen an deinem Bett gesessen, einander aber kein Wort gesagt. Erst jetzt haben sie sich entschlossen, miteinander zu reden. Dort auf dem Damm, bei den Teichen. Und du hast beschlossen zu lauschen, worüber sie reden  ... Und sie durch ein Loch in der Mauer zu beobachten. So dringlich musst du wissen, was sie dort tun?«

»Nichts tun sie.« Ciri errötete ein wenig. »Sie reden ein bisschen, das ist alles.«

»Und du« – Rittersporn setzte sich bei einem Apfelbaum ins Gras und lehnte sich mit dem Rücken an den Stamm, nachdem er sich vergewissert hatte, dass es darauf weder Ameisen noch Raupen gab –, »du wüsstest gern, worüber sie reden, nicht wahr?«

»Ja  ... Nein! Und überhaupt  ... Und überhaupt höre ich sowieso nichts. Sie sind zu weit weg.«

Der Barde lächelte. »Wenn du willst, sage ich es dir.«

»Und woher willst du das wissen?«

»Ha ha. Ich, liebe Ciri, bin ein Dichter. Dichter wissen von solchen Dingen alles. Ich sag dir eins: Dichter wissen von solchen Dingen mehr als die beteiligten Personen.«

»Von wegen!«

»Ich gebe dir mein Wort. Das Wort eines Dichters.«

»So? Na dann  ... Na dann sag, worüber reden sie? Erklär mir, was das alles bedeutet!«

»Schau noch mal durch das Loch und sieh nach, was sie tun.«

»Hmm  ...« Ciri biss sich auf die Unterlippe, dann bückte sie sich und brachte ein Auge an den Mauerspalt. »Frau Yennefer steht bei einer Weide  ... Sie reißt Blätter ab und spielt mit ihrem Stern  ... Sie sagt nichts und schaut Geralt überhaupt nicht an  ... Und Geralt steht neben ihr. Mit gesenktem Kopf. Und er sagt etwas. Nein, sei still. Oh, macht der ein Gesicht  ...«

»Kinderleicht.« Rittersporn fand im Gras einen Apfel, wischte ihn an der Hose ab und beäugte ihn kritisch. »Er bittet sie gerade, dass sie ihm seine verschiedenen dummen Worte und Taten verzeiht. Er entschuldigt sich für die Ungeduld, für den Mangel an Glaube und Hoffnung, für die Voreingenommenheit, für das Schmollen und die Posen, die sich für einen Mann nicht ziemen. Er entschuldigt sich für das, was er einst nicht verstanden hat, und für das, was er nicht verstehen wollte  ...«

»Das ist eine unmögliche Unwahrheit!« Ciri richtete sich auf und warf mit einer heftigen Bewegung die Haare aus der Stirn. »Du denkst dir das alles aus!«

»Er entschuldigt sich für das, was er jetzt erst verstanden hat.« Rittersporn blickte gen Himmel, und seine Stimme begann den Rhythmus anzunehmen, der Balladen eigen ist. »Für das auch, was er gern verstünde, obwohl er fürchtet, dass es ihm wohl nicht gelingen wird  ... Und für das, was er gewiss niemals verstehen wird. Er entschuldigt sich und bittet um Verzeihung  ... Hmm, hmm  ... Befreiung ... Kasteiung  ... Prophezeiung? Alles banal, verdammt  ...«

»Das ist nicht wahr!« Ciri stampfte auf. »Geralt redet gar nicht so! Er  ... er redet überhaupt nicht. Ich habe es doch gesehen. Er steht mit ihr da und schweigt.«

»Darin besteht die Rolle der Poesie, Ciri. Sie spricht davon, wovon die anderen schweigen.«

»Eine dumme Rolle ist das. Und du denkst dir das alles aus!«

»Auch darin besteht die Rolle der Poesie. He, ich höre vom Damm her irgendwelche erregten Stimmen. Schau schnell nach, was sich da tut.«

»Geralt« – Ciri presste das Auge wieder an das Loch in der Mauer – »steht mit gesenktem Kopf da. Und Yennefer schreit ihn fürchterlich an. Sie schreit und fuchtelt mit den Händen. Oje  ... Was mag das bedeuten?«

»Kinderleicht.« Rittersporn blickte wieder den am Himmel einherziehenden Wolken nach. »Jetzt entschuldigt sie sich bei ihm.«